Canale Mortale (German Edition)
eine alte Rechnung mit dem
Conte begleichen wollte, dann hatte sie sich als Ausländerin nicht
einzumischen.
Vor dem Gebäude der Redaktion empfing sie eine gleißende Sonne.
Antonia konnte noch immer nicht sprechen. Wie mochten sich die Gefangenen
gefühlt haben, als man sie an einem Sommermorgen zur Exekution gezerrt hatte?
Jana hatte der Bericht des Archivars offenbar nicht so beeindruckt,
denn sie schaute alle paar Minuten auf ihr pinkfarbenes Handy, als ob sie auf
eine wichtige Nachricht warte. Auf dem Heimweg kamen sie an dem Haus vorbei,
aus dem vor ein paar Tagen Guido gekommen war. Antonia bemerkte, dass Jana, wie
schon bei ihrem Bootsausflug am Vortag, mehrfach zum Piano Nobile hochschaute.
Sie blieb stehen und sah Jana fragend an.
»Neulich habe ich gesehen, wie Guido dort aus der Tür kam. Ich
dachte, er wohnt im Castello?«
Jana sah zur Seite und antwortete mit ihrer neutral klingenden
Fremdenführerstimme: »Das ist der sogenannte Palazzo Piccolo, der kleine
Palazzo, im Gegensatz zum großen Palazzo, in dem wir wohnen. Der kleine Palazzo
gehört auch meinem Großvater. Guido und Cecilia haben dort bis zu Cecilias Tod
gelebt. Mein Großvater hat es nach dem Tod Cecilias nicht übers Herz gebracht,
die Wohnung neu zu vermieten.«
»Das heißt, Guido lebt dort noch immer? Ich denke, dein Großvater
hat mit ihm gebrochen?«
»Nun ja, in diesem Fall ist Großvater nicht konsequent. Irgendwie
gehört Guido noch zur Familie, auch wenn Großvater ihn hasst. Guido hat ein
Zimmer bei seiner Mutter, aber er hat auch noch die Schlüssel zu der alten
Wohnung. Er ist manchmal da, wenn er hier im Viertel ist.«
Jana wühlte in ihrer Umhängetasche.
»Verdammt, ich bin schon spät dran. Ich suche mein Portemonnaie. Ich
muss es wohl zu Hause liegen gelassen haben. Dauernd verlege ich etwas. Kannst
du mir vielleicht zwanzig Euro leihen?«
Hastig stopfte sie den Geldschein, den Antonia ihr gab, in die
Tasche ihrer Jeans.
»Ich gehe dann mal in die Uni. Ich habe einen Termin mit Professor
Marconi. Er will mit mir über ein Kapitel meiner Doktorarbeit sprechen. Bis
später! Wir sehen uns heute Abend um sieben im ›Già Schiavi‹.«
Damit bog sie in die nächste Gasse ein. Antonia blieb stehen und
studierte die Fassade des kleinen Palazzos. Fast alle Fenster waren durch
hölzerne Läden verschlossen. Am Klingelschild stand neben dem mittleren
Messingknopf noch immer » G & C M assato«. Weitere Namen
gab es nicht. Trotzdem versuchte sie auch die drei anderen Klingeln, ohne
Erfolg. In diesem Haus schien sich tatsächlich nur Guido ab und an aufzuhalten.
Auf dem Rückweg zum Palazzo klingelte ihr Handy. Es war Rita. Sie
war auf einer Sightseeing-Tour und wollte sich später mit ihr zum Essen
treffen. Antonia sagte zu.
Im Haus war es schön kühl. Das marmorne Treppenhaus mit seinen
ausgetretenen Stufen war ihr jetzt schon vertraut. Bevor sie den Flur mit dem
Gästeapartment erreichte, war ihr, als hörte sie dort oben Schritte. Vor der
Tür des Apartments blieb sie stehen und lauschte. Sie schaute den dunklen Flur
hinunter, an dessen Ende sich der Wäscheboden befand. Offenbar war dort gerade
jemand hinter der Tür verschwunden. Sie blieb stehen und lauschte wieder.
Möglicherweise waren die Handwerker zurückgekommen. Oder Flavia machte sich
dort zu schaffen. Ob sie dort nachsehen sollte?
Sie ging ein paar Schritte in Richtung Tür und blieb dann horchend
stehen. Alles war still. Rasch ging sie zum Apartment zurück und schloss die
Tür hinter sich. Im Wohnzimmer streifte sie ihre Schuhe ab und nahm auf dem
Sofa Platz, um sich noch einmal die Kopie des Zeitungsartikels anzusehen, die
der Archivar ihr gegeben hatte. Sie hatte kaum mit der Lektüre begonnen, als das
Haustelefon ging. Es war Octavia. Tante Alba habe inzwischen mit dem Neffen der
Principessa gesprochen. Flavia sei dort tatsächlich angestellt gewesen, habe
jedoch von selbst gekündigt. Wenn Antonia wolle, könne sie zu ihnen in den
Salon kommen.
Antonia zog ihre Schuhe wieder an und lief die Stufen hinunter. Auf
der Treppe kam ihr Flavia von unten entgegen. Sie erwiderte Antonias Gruß
nicht. Stattdessen ging sie mit finsterem Blick in den Saal mit der
Gemäldesammlung des Conte und schlug die Tür laut hinter sich zu.
Sie macht es einem wirklich schwer, sie zu mögen, dachte Antonia.
Sie hatte Flavia längst nach den Überbringern der Briefe fragen wollen, war ihr
aber bisher aus dem Weg gegangen, weil sie immer so abweisend war.
Tante
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