Canale Mortale (German Edition)
Mann abzulenken, zeigte er ihm einen Teil der
Sammlung, nachdem er vorher die wertvollsten Bilder entfernt hatte.«
Octavia hörte mit blassem Gesicht zu. Es schien, als erfahre sie das
erste Mal von den Vorgängen aus der Vergangenheit ihrer Familie.
»Was hatte es mit dem Besuch des Amerikaners auf sich?«, fragte
Antonia mit bestimmter Stimme.
Octavia schaute erschrocken hoch. Auch dem Conte war der veränderte
Tonfall seines Gastes nicht entgangen. Seine Wangen hatten sich gerötet, das
Gespräch schien ihn mehr aufzuregen, als er zeigen mochte, aber er antwortete
nicht. Octavia versuchte noch, sie mit einem leichten Kopfschütteln von der
Wiederholung ihrer Frage abzuhalten, doch Antonia hatte sich schon dem Conte
zugewandt und fragte ihn noch einmal lauter.
Der alte Mann wurde deutlich blasser, als Antonia den Namen Singer
nannte. Er schloss die Augen, griff nach dem kleinen Löffel auf seiner
Untertasse und rührte in seinem Espresso. Dann nahm er einen Schluck Kaffee,
winkte dem Kellner und bestellte einen Grappa. Sein schmales Gesicht wirkte
jetzt härter als zu Beginn des Gesprächs, und er sah Antonia mit einem Ausdruck
von Hochmut an, der vermutlich einschüchternd wirken sollte.
»Ich weiß nicht, was diese Frage soll. Signor Singer wollte mir
unbedingt ein Bild abkaufen. Aber ich wollte es behalten. So einfach ist das.«
»Aber die Besuche von Mr Singer haben Sie sehr aufgeregt, wie ich
hörte. Warum? Sie haben doch jedes Recht, ein Bild nicht zu verkaufen, wenn Sie
es nicht wollen.«
Die Stimme des Conte nahm jetzt das erste Mal eine höhere Tonlage
an. »Dieser Amerikaner war sehr aufdringlich. Er wollte sich partout nicht von
seinem Vorhaben abbringen lassen. Das hat mich sehr mitgenommen!«
Antonia, von seinem Blick unbeeindruckt, glaubte ihm nicht, nickte
aber scheinbar verständnisvoll. Der Conte ereiferte sich zunehmend. Hals und
Wangen zeigten rote Flecken, und seine Stimme klang jetzt fast heiser.
»Die Amerikaner kaufen in Italien den Kunstmarkt auf. Ich kann das
nicht dulden. Meine Bilder sollen in Venedig bleiben. Dort gehören sie hin!«
Er trank den Grappa, den der Kellner vor ihn hingestellt hatte, in
einem Zug aus.
»Weiter habe ich nichts zu sagen. Ich möchte jetzt noch etwas für
mich sein und die Zeitung von heute lesen, deshalb bin ich hierhergekommen.
Wenn Sie mich entschuldigen wollen. Octavia, du solltest unseren Gast
begleiten.«
Octavia stand gehorsam auf und strich ihren Rock glatt, während
Antonia regungslos sitzen blieb.
»Ich hätte da noch eine letzte Frage, Conte. Was war das für ein
Bild, das Mr Singer unbedingt haben wollte?«
Der Conte sah Antonia mit erstaunt hochgezogenen Brauen an, aber der
Rest seines Gesichts blieb unbewegt. »Es handelte sich um eine Kopie, die Kopie
eines Tizian-Bildes. Jana kann Ihnen das Bild bei Gelegenheit gerne zeigen.«
»Und die Briefe? Was sagen Sie zu den Briefen?«
»Welche Briefe? Mr Singer hat mir nie geschrieben …«
Octavia hatte ihm demnach immer noch nichts von den Drohbriefen
erzählt. Antonia blickte sie ungläubig an. Octavia schüttelte wieder unmerklich
den Kopf und wandte sich ihrem Vater zu.
»Papa, geht es dir etwas besser?«
Zu Antonia gewandt erklärte sie, dass der Conte gestern mit Übelkeit
zu kämpfen hatte.
»Soll ich dir noch einen Aperitif bestellen? Wir können dann in
einer Stunde zu Abend essen.«
Der Conte verneinte und richtete seinen Blick störrisch vor sich auf
die Marmorplatte des Caféhaustisches. Die Zeitung lag weiterhin ungeöffnet vor
ihm. Er schien geistesabwesend. Wahrscheinlich beschäftigte ihn die Frage,
wieso diese junge Deutsche, die sich für die Geschehnisse des Zweiten
Weltkriegs interessierte, nach diesem Singer fragte. Antonia sah, wie es in ihm
arbeitete. Als er jedoch auch nach etlichen Sekunden nichts sagte, stand sie
auf, dankte ihm für das Gespräch und verabschiedete sich.
Als sie in die Kolonnaden des Markusplatzes trat, entspannte sie
sich. Ihr Nacken schmerzte. Die Unterredung mit dem Conte hatte sie
angestrengt, sodass sie vor Anspannung die ganze Zeit die Schultern hochgezogen
hatte. Sie schlenderte an den Auslagen der Procuratien entlang und blieb eine
Weile an einem Laden mit überdimensionierten Kronleuchtern aus Muranoglas stehen,
als sie zwei Meter von sich entfernt eine hohe Gestalt vorbeigehen sah. Eine
Frau mit einem schwarzen Kopftuch und einer Sonnenbrille. War es Zufall, dass
Flavia hier vorbeigekommen war? Hatte sie etwa auch im
Weitere Kostenlose Bücher