Canale Mortale (German Edition)
Mauern. Sie hatte schon von den
geheimnisvollen Gärten der Lagunenstadt gehört, die – vollkommen abgeschottet
vor neugierigen Augen – für ihre Besitzer einen Rückzugsort angesichts der
Millionen Besucher der Stadt darstellten. Am Ende des Gartens, unter einem
Baldachin aus rosa und weiß blühendem Oleander, saßen Anna und Nardo an einem
steinernen Tisch. Anna stickte, und Nardo starrte trübsinnig auf die
Reklamebeilage der Tageszeitung. Er trug keinen Verband mehr, stattdessen zog
sich jetzt von der Mitte des Kopfes ein Pflaster bis in seine Stirn. Er schien
nicht besonders erfreut über den Besuch der beiden jungen Frauen, wohingegen
seine Schwester sofort das Stickzeug weglegte und fragte, ob sie ihnen etwas zu
trinken bringen könne. Jana dankte und setzte sich neben Nardo.
Nach den üblichen Bemerkungen über das viel zu warme Wetter zog
Antonia das Foto aus der Tasche, und Jana erklärte dem Restaurator, dass ein
Besucher ihres Großvaters nach dem Bild gefragt habe, das man auf dem Foto
sehe.
»Können Sie sich erinnern, ob es sich je in der Sammlung meines
Großvaters befand?«
Nardo zögerte, kniff die Augen zusammen und besah sich die Kopie.
»Das ist ein Foto!«
Es dauerte etwas, bis er begriff, dass es um das Bild im Bild ging.
Seine Schwester lieh ihm ihre Brille, und Nardo sah sich das Foto noch einmal
an. Antonia beobachtete ihn genau. Als seine Augen auf die Mitte des Fotos
fokussierten, zuckte sein Kopf plötzlich erschrocken zurück.
»Nein, nein. Dieses Bild war nicht in der Sammlung.«
Antonia tippte noch einmal mit dem Zeigefinger auf das Gemälde und
wiederholte Janas Frage. »Sind Sie ganz sicher, dass Sie das Bild noch nie
gesehen haben?«
Aber Nardo hatte die Brille schon abgelegt und presste die Lippen
aufeinander, als wolle er nie mehr sprechen. Antonia versuchte es noch einmal.
»Es handelt sich um ein Madonnenbild, es ist vielleicht ein Tizian.«
Der alte Restaurator machte eine wegwerfende Handbewegung. »Es gab
nie einen echten Tizian in der Sammlung des Conte. Das hätte ich gewusst.«
Dann stand er auf, ging langsam auf das Haus zu und verschwand im
Flur. Anna entschuldigte sich für das schroffe Verhalten ihres Bruders.
»Nardo hat immer noch Probleme mit seinem Kopf. Er ist im Moment
sehr schwierig.« Seufzend griff sie wieder nach ihrem Stickzeug. »Es ist schön
hier, aber wir würden gerne auf unsere Insel zurück. Wir vermissen das Wasser.
Aber Don Orione meint, wir sollten vorsichtig sein und tagsüber im Garten
bleiben. Nardo hat hier nichts zu tun, ihm fehlt seine Werkstatt.«
Jana nickte. »Das verstehe ich, aber Sie müssen tatsächlich noch
eine Zeit lang hierbleiben. Sie wollen doch nicht, dass sich dieser Überfall
wiederholt. Wenn Sie möchten, bringe ich Nardo ein paar kleinere Bilder aus dem
unteren Flur zur Auffrischung. Dann ist er beschäftigt.«
Anna nickte erfreut. »Das wäre wunderbar. Wenn er eine Aufgabe hat,
bessert sich auch seine Laune.«
Antonia spürte, dass Nardo mehr wusste, als er zugab. Schweigend
ging sie mit Jana zum Palazzo Falieri zurück. Plötzlich blieb sie wütend
stehen.
»Ich hätte diesen Fall nie annehmen sollen. Überall stoße ich nur
auf Hindernisse. Und deinen Großvater kann ich nicht mehr fragen, er wäre der
Einzige gewesen, der mir etwas zu diesem Bild hätte sagen können!«, brach es
aus ihr heraus.
Jana legte beschwichtigend eine Hand auf ihren Arm. »Was hältst du
davon, wenn ich einen Termin mit Marconi, meinem Doktorvater, mache. Er ist
Tizian-Spezialist. Er soll sich das Foto einmal ansehen, vielleicht kann er uns
weiterhelfen. Einverstanden?«
Antonia nickte und schlug den Weg zur Zattere-Promenade ein.
»Entschuldige mich, Jana, ich muss jetzt allein sein. Ich werde eine Weile
spazieren gehen.«
Antonia kannte diesen Zustand. Ein solches Gefühl der Leere stellte
sich manchmal bei ihr ein, bevor sich eine Art Knoten löste und der Fall sich
in einem anderen Licht zeigte.
16
Als sie um die Ecke an den Zattere bog, atmete sie tief
durch. Ein leichter Wind war aufgekommen und kräuselte das Wasser auf dem
Giudecca-Kanal. Der Fähre, die zum Lido fuhr, folgte kreischend ein Schwarm
Möwen. Für einen kurzen Moment stellte sich wieder das Feriengefühl ein, das
sie zu Beginn ihres Aufenthalts so sehr genossen hatte. Sie bekam Lust auf ein
Eis und ging zur Gelateria »Da Nico«. Sämtliche Tische vor der Eisdiele waren
besetzt. An der Außentheke hatte sich eine kleine Schlange gebildet,
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