Canale Mortale (German Edition)
her, und man hörte ihre Absätze schneller auf der
Treppe klappern.
»Was hast du vor, Tante Alba?«
Alba klopfte mit ihrem schwarzen Gehstock energisch auf das Parkett.
»Diesen Nardo werde ich mir jetzt einmal vorknöpfen!«
Octavia ging ins Arbeitszimmer ihres Vaters, um den Commissario
anzurufen und ihn zu bitten, ihr Telefon zu überwachen, falls sich der
Entführer wieder meldete. Dann traf Don Orione mit Nardo im Schlepptau ein. Der
Priester war außer Atem. Er hatte sich offenbar beeilt. Der alte Restaurator
hielt sich ein Stück hinter ihm und sah sich unbehaglich im Salon um. Die
Schwester des Conte grüßte Don Orione mit einem Kopfnicken und wandte sich dann
an den Mann aus Burano.
»Salve, Nardo. Hast du davon gehört, dass man Ugo entführt hat?«
Nardo hielt den Blick nach unten gerichtet. Er antwortete nicht,
sondern nickte nur. Etwas wie Trotz lag in seiner Miene.
Tante Alba klopfte dreimal heftig mit ihrem Gehstock auf den Boden.
»Unser kleiner Ugo ist in der Hand von Verbrechern! Und diese Verbrecher wollen
ein Bild!«
Der letzte Satz ertönte in einer Lautstärke, wie sie die Nebelhörner
der Kreuzfahrtschiffe erschallen ließen, wenn sie in die Adria ausliefen.
Antonia sah, wie Florian, der sich hinter sie auf einen Stuhl an der Wand
gesetzt hatte, die Hände über die Ohren legte.
»Komm hier hin, Nardo. Setz dich.«
Tante Alba hieb den Stock wieder gebieterisch auf den Boden. Nardo
folgte ihrer Aufforderung zögernd und setzte sich neben sie.
»Antonia, geben Sie mir das Foto!«
Dann hielt Tante Alba dem alten Restaurator das Foto unter die Nase
und schlug ein paarmal mit der Hand darauf.
»Kennst du das Bild? Du kennst es, oder? Wenn meinem Neffen auch nur
ein Haar gekrümmt wird und du gelogen hast, wirst du das nicht überleben!«
Es folgte ein Schwall venezianischer Flüche.
Antonia sah ratlos zu Jana hinüber. »Wenn sie ihn beschimpft, wird
er bestimmt nicht reden …«
Jana schüttelte den Kopf und flüsterte: »Sie beschimpft die
Entführer!«
Nardo sah noch immer auf seine Schuhspitzen und schwieg. Alba sprach
jetzt in normaler Lautstärke weiter und verlegte sich aufs Bitten. Wenn er es
nicht ihr sagen wolle, solle er sich wenigstens Don Orione anvertrauen. Es
würde ihm auch im Himmel vergolten. Es ginge um das Leben eines Kindes. Eine
Weile herrschte vollkommene Stille im Salon. Alle hielten den Atem an. Dann
fing Nardo an zu zittern, erst kaum sichtbar, dann immer stärker, schließlich
brach er zusammen und weinte.
»Ich kann es nicht sagen, ich kann es nicht sagen. Ich habe es bei
der Madonna dei Miracoli geschworen!«
Florian beugte sich zu Antonia nach vorne und fragte sie flüsternd:
»Wer ist denn das schon wieder?«
»Erklär ich dir später!«
Dann begann Nardo stockend zu erzählen. Er hatte seinerzeit seinem
früheren Auftraggeber, dem Vater des Conte, bei der Madonna dei Miracoli
schwören müssen, niemandem von dem Bild des jüdischen Ehepaares zu erzählen.
Der Vater des Conte hatte ihm eingebläut, dass er, wenn er seinen Schwur
breche, auf der Stelle tot umfalle. Alle sahen sich betroffen an. Tante Albas
Miene verfinsterte sich, aber sie schwieg. Offenbar kam auch sie hier an ihre
Grenzen. In diesem Augenblick hatte Antonia einen Einfall. Sie zog instinktiv
ihr Handy hervor und suchte nach dem Foto von dem Mann, den sie mit Ugo auf dem
Fußballplatz gesehen hatte. Dann stand sie auf und hielt es Nardo hin.
»Nardo, haben Sie diesen Mann schon einmal gesehen?«
Der alte Mann kniff die Augen zusammen, nur um sie gleich wieder
weit aufzureißen. Er schien auch ohne Brille erkannt zu haben, um wen es sich
handelte. Immer wieder tippte er erregt mit seinem knochigen Finger auf das
Display.
»Das ist er! Dieser Gauner, diese Schweineschnauze von einem Gauner!
Das war der, der mich geschlagen hat!«
»Es ist derselbe, der jetzt Ugo, den Enkel des Conte, in seiner
Gewalt hat«, sagte Antonia.
Daraufhin passierte etwas Erstaunliches. Der Alte sprang auf,
hastete zur Tür und winkte ihnen, nachzukommen. Alle bis auf Tante Alba folgten
ihm die Treppe hoch zum Saal und drängten sich hinter ihn in den hellen Raum.
Der Drehstuhl stand in der Position, in die Conte Falieri ihn zuletzt vor
seinem Tod gebracht hatte: genau gegenüber den Bildern an der rechten Wand und
speziell gegenüber der gefälschten Tizian-Venus.
Nardo schritt langsam und leise vor sich hin murmelnd alle Seiten
des Saales ab. An der rechten Seite hielt er inne. Sein Blick blieb an
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