Canale Mortale (German Edition)
der
Venus-Kopie hängen, die der Conte neulich noch Jana und Antonia gezeigt hatte.
»Eccola, das war es!«
Antonia sah Jana an. Die beiden schüttelten den Kopf.
»Die Venus ist eine Kopie. Das Original hängt im Ca’ d’Oro.«
Aber Nardo beachtete sie gar nicht. Er strich am Rahmen entlang und
tastete mit den Fingern dessen Rückseite ab. Antonia erinnerte sich, dass sie
Flavia schon einmal bei etwas ganz Ähnlichem beobachtet hatte. Und hatte nicht
auch der Conte einmal seltsam nahe an diesem Bild gestanden? Nach einer Weile
gab der Restaurator auf. Erschöpft ließ er sich in den Drehsessel des Conte
sinken.
»Ich schaffe es nicht! Es war ein spezieller Mechanismus …«
Unruhig stand er auf und ließ seine Finger erneut hinter dem Rahmen
auf und ab gleiten.
»Was suchen Sie, Nardo?« Jana wurde allmählich ungeduldig.
»Es ist ein kleiner Knopf, den man nach innen drückt, dann öffnen
sich vier Klappen, hinter denen Riegel verborgen sind. Wenn man sie verschiebt,
kann man den Rahmen öffnen. Das Gemälde des Americano muss sich dahinter
befinden, wenn es niemand inzwischen entfernt hat.«
Florian schlug vor, das Bild abzuhängen und auf den Boden zu legen,
um die Suche nach dem Knopf zu erleichtern. Aber als Don Orione und er
versuchten, das Bild von der Wand zu nehmen, ging ein gellendes Getöse los. Die
Alarmanlage hatte sich eingeschaltet, und ein Höllenlärm erfüllte das Haus, bis
Florian auf die Idee kam, die Sicherung für die Etage auszuschalten. Er lief
mit Jana und Antonia zu den Kästen im Hausflur, probierte die Sicherungen und
fand schließlich die richtige. Die Sirene schaltete sich ab.
Giovanna kam alarmiert nach oben geeilt.
»Was ist passiert?«
Die Köchin begrüßte Nardo und Don Orione und sah fragend in die
Runde. Jana beruhigte sie.
»Alles in Ordnung. Mama hat ein Bild von der Wand nehmen wollen, und
dann ging die Alarmanlage los …«
Antonia fragte die Köchin nach Flavia. Sie wollte auf keinen Fall,
dass die Hausangestellte zu ihnen in den Saal kam. Giovanna machte eine
abfällige Handbewegung.
»Sie ist einkaufen. Sie fühle sich nicht gut, da habe ich sie an die
frische Luft geschickt. Dauernd hat sie etwas in der letzten Zeit!«
Neugierig blieb sie stehen und sah alle erwartungsvoll an, doch
Octavia schickte sie mit strenger Stimme wieder an ihre Arbeit.
»Giovanna, bringen Sie meiner Tante den Kaffee. Sie ist im Salon.«
Florian verschloss hinter ihr die Tür. Dann hoben er und Don Orione
das Bild vorsichtig von der Wand und legten es auf den Boden. Alle kauerten
neben dem Rahmen nieder, um mit Nardo nach dem Knopf zu suchen. Aber Nardo
verscheuchte sie. Seine langen Finger glitten wieder und wieder an der Seite
des Rahmens entlang. Plötzlich entspannte sich sein Gesicht, er schien gefunden
zu haben, was er suchte. Tatsächlich sprangen seitlich, oben und unten am
Rahmen Klappen heraus, hinter denen je ein Riegel sichtbar wurde. Nardo öffnete
alle vier Riegel und hielt inne.
»Ich habe sie jetzt fast sechzig Jahre nicht gesehen, und vielleicht
ist es das Letzte, was ich in meinem Leben tue, aber ich bin alt, und der Junge
muss gerettet werden. Helfen Sie mir!«
Don Orione kam ihm zu Hilfe, und gemeinsam stellten sie das Bild
aufrecht an die Wand. Nardo griff an den hinteren Teil des offensichtlich
doppelten Rahmens und schob ihn langsam zur Seite.
Allen stockte der Atem.
Sichtbar wurde das Bildnis einer jungen Frau. Sie trug ein hochrotes
Gewand, ihr langes rötliches Haar wurde nur zur Hälfte von einem hellen
Schleier bedeckt. Auf ihrem rechten Arm saß ein kräftiges Kind, das sich an sie
schmiegte. Ihr Kopf war etwas nach rechts geneigt, und sie sah den Betrachter
aus schrägen, lächelnden Augen an. Sie schien das Kind, indem sie sich halb von
der Bildachse wegdrehte, mit ihrem Arm beschützen zu wollen. Ihr Blick schlug
den Betrachter so in seinen Bann, dass man kaum die Augen von ihr abwenden
konnte. Die Farben von Kleid, Haar und Teint waren außerordentlich lebhaft und
verbreiteten eine warme, gelöste Stimmung. Professor Marconi hatte recht
gehabt. Das Gesicht der jungen Frau ähnelte dem Gesicht von Tizians »Venus von
Urbino«.
Nardo murmelte etwas vor sich hin und bekreuzigte sich, Don Orione
pfiff leise durch die Zähne.
»Es ist wunderbar. Ich kann verstehen, dass der Conte dieses Bild
mit niemandem teilen wollte.«
Antonia und Jana sahen sich an. Es gab keinen Zweifel, das war das
Bild der Singers. Auf dem Foto hing es über dem Diwan
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