Canale Mortale (German Edition)
gehen. Die Entführer sollen sich in Sicherheit
wiegen.«
Antonia fragte ihn, ob er glaube, Ugo sei noch in der Stadt. Der
Commissario antwortete müde: »Venedig ist ein idealer Ort, um einen Menschen zu
verstecken. Wie wollen Sie in diesem Labyrinth von Gassen und Gässchen jemanden
finden? Oder Sie fliehen übers Meer. Dann gibt es noch die Lagune mit ihren
vielen kleinen Inseln. Anscheinend ist der Junge mit dem Fremden aber aufs
Festland gefahren, wenn die Aussage der Zeugin stimmt. Sie wollte übrigens
ihren Namen nicht nennen. Ich hoffe nicht, dass sie mit den Entführern unter
einer Decke steckt und uns nur an der Nase herumführt.«
Am Abend rief Antonia unter einem Vorwand noch einmal in Israel an
und sprach mit Aram Singer. Wenn dieser Mann tatsächlich Aram Singer war, dann
hatte er mit den Vorfällen in Venedig nichts zu tun.
Antonia ging zusammen mit Don Orione zum Abschlusskonzert der
Orgelklasse im Festsaal des Konservatoriums. Tante Alba, Octavia und Jana waren
wegen Ugos Verschwinden zu verstört und kamen nicht mit. Das Konzert wurde ein
großer Erfolg für die Orgelklasse. Florian spielte im Wechsel mit einem
venezianischen und einem spanischen Künstler, und alle drei bekamen anhaltenden
Applaus. Die Vertreter zweier Produktionsfirmen waren anwesend und boten
Florian an, in Rom Aufnahmen von Orgelstücken zu machen.
Florian war selig. Antonia freute sich aufrichtig für ihn, war
jedoch die meiste Zeit während des Konzerts und der Gespräche danach gedanklich
abwesend. Immer wieder musste sie an Ugo denken. Hoffentlich ging es ihm gut.
Bei der anschließenden Feier trank sie nur ein Glas Saft, dann entschuldigte
sie sich bei Florian und ging mit Don Orione nach Hause.
»Sie sind sehr niedergeschlagen, nicht wahr?«, sagte der Priester
auf dem Heimweg. »Ich werde für Ugo beten. Vielleicht ist er nur ausgerissen.
Jungs in diesem Alter machen so etwas manchmal. Vielleicht ist ihm Venedig zu
eng geworden, und er hat auf einem Schiff angeheuert. Ich hatte als Junge auch
solche Träume, aber meine Mutter und meine Schwestern haben aufgepasst und
dafür gesorgt, dass ich nach der Schule zum Priesterseminar ging.«
Antonia hörte nur mit halbem Ohr hin.
19
Am Morgen nach Ugos Verschwinden kam ein Schreiben mit der
Post, das nur aus einer Zeile in Großbuchstaben bestand: » DAS BILD VON ARAM SINGER «. Etwas später erhielt Octavia
einen Anruf. Eine männliche Stimme erklärte ihr, man halte Ugo gefangen und
würde ihn erst wieder herausgeben, wenn man im Gegenzug das Bild bekäme, das
die Familie Falieri von einem jüdischen Ehepaar namens Singer erhalten habe.
Man werde Octavia weitere Nachrichten zukommen lassen. Octavia schrie ins
Telefon, sie wolle mit ihrem Sohn sprechen, aber der Mann hatte schon
aufgelegt.
»Und wenn ich die Polizei verständige, dann würde ich Ugo niemals
wiedersehen!«
Octavia brach in Tränen aus. Antonia bat sie, Ruhe zu bewahren, und
empfahl ihr, ein Beruhigungsmittel zu nehmen.
»Es wird Ugo nichts geschehen, solange sie das Bild nicht haben.
Unser Problem ist, dass wir das Bild nicht finden können, das die Erpresser
wollen. Die Fotografie, die ich von den Singers bekommen habe, stimmt mit
nichts überein, was in der Sammlung Ihres Vaters hängt. Jana und ich haben
alles abgesucht, auch hier unten im Flur.«
Die Familie saß mit Antonia und Florian im Salon, um die nächsten
Schritte zu beraten.
»Es ist wichtig, dass wir jetzt besonnen handeln. Wenn der Mann noch
einmal anruft, halten Sie ihn hin und achten Sie auf seine Stimme und den
Dialekt«, sagte Antonia.
Dann berichtete sie der Familie von ihrem Besuch bei Nardo und dass
sie den Eindruck gewonnen hätte, der Restaurator, der mit seiner Schwester bei
Don Orione untergekommen sei, wisse mehr, als er zugebe.
»Ich habe Nardo das Foto mit dem Bild der Singers gezeigt, und er
war sehr erschrocken, das habe ich deutlich gesehen. Aber er hat abgestritten,
das Bild jemals gesehen zu haben. Daraufhin haben Jana und ich jedes einzelne
Bild der Sammlung des Conte angeschaut. Das Madonnenbild ist nicht dabei.«
Tante Alba, die ihren Großneffen Ugo über alles liebte und bisher in
eine traurige Starre versunken war, straffte sich plötzlich und klingelte nach
Flavia.
»Holen Sie mir Don Orione und Nardo. Sie möchten sofort kommen.«
Selbst Flavia, die mit eisigem Gesicht in der Tür erschienen war,
schrumpfte unter Tante Albas autoritärem Ton. »Subito!«, scholl es noch in
Megafon-Lautstärke hinter ihr
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