Canale Mussolini
nein, Mama. Wir sind eine einzige Familie, und wir sind viele. Bleiben wir doch auch weiterhin eine einzige Familie.«
»Nein, nein, so ist es Recht«, und innerlich jubelte Großmutter, weil sie mit Pericles Frau ein Herz und eine Seele war, wie die Schwäger alle auch, die Frauen allerdings nicht. So hatte Onkel Temistocle seine eigene Familie gebildet, und da war – wie nur recht und billig – die potestas meines Großvaters direkt auf Pericle übergegangen, ohne dass man das eigens hätte sagen müssen. Es war uns allen schon klar.
Auch Onkel Adelchi wusste also, dass er bloß der dritte Sohn war, und es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, daran zu rütteln. Im Gegenteil, kaum war die Trennung von Onkel Temistocle vollzogen und hatte Onkel Pericle gesagt: »Ist gut, Mama, jetzt sind wir hier, neue Heimat, neues Leben. Von heute an sollen die Jüngeren zur Schule gehen, es soll was aus ihnen werden, damit niemand mehr die Peruzzi reinlegen kann, wie die Zorzi Vila es getan haben«, da hatte Onkel Adelchi sofort zustimmend genickt. Sogar Großvater zeigte sich einverstanden. Nur Großmutter versuchte einzuwenden: »Aber das Geld? Was wird das kosten? Wie sollen wir das machen?«
»Irgendwie machen wir das schon«, sagte Onkel Adelchi prompt, als ob es seine Idee gewesen wäre.
»Und was, wenn sie nicht den Kopf dafür haben?«
»Dann prügle ich es ihnen ein.«
Und so kam es, dass meine jüngeren Onkel und Tanten zur Schule gingen. Oben im Norden hatte man, wenn’s hoch kam, die zweite oder dritte Klasse Volksschule gemacht. Hier dagegen wurden wir nach der Volksschule im Borgo alle mit dem Fahrrad nach Littoria geschickt, zehn oder zwölf Jahre alte kleine Geschöpfe wie Onkel Cesio und Tante Ondina, im Winter und im Regen. Und wenn sie sich sträubten, jagte Onkel Adelchi sie wirklich mit Fußtritten hinaus: »Es ist doch nur zu eurem Besten, ihr Unglückseligen.«
»Aber mir ist kalt!«
»Wird’s bald!«, schrie er gellend, denn wenn er schrie – ich weiß nicht, ob ich Ihnen das schon gesagt habe –, wurde seine Stimme ganz hoch und schrill.
Bei ihm kam es eher selten vor – das habe ich Ihnen aber bereits gesagt –, dass man ihn mit schlammverschmierten Hosen sah, im verschwitzten Hemd, vor allem aber mit der Hacke oder der Mistgabel in der Hand. Er hatte immer etwas anderes, Wichtigeres zu tun, im Interesse aller natürlich – eine Unterredung mit dem Verwalter, das Saatgut kontrollieren, ein Werkzeug, das zur Reparatur gebracht werden musste. Er schien selbst der Verwalter zu sein, und jeden Morgen – schon als wir noch dort oben in Norditalien waren – führte er sich auf wie ein rabiater Hund. Frisch rasiert, platzte er ins Zimmer der Mädchen, wenn es noch nicht einmal dämmerte – um fünf, maximal Viertel nach fünf, wenn gerade erst ein winziger heller Schimmer im Nebel sichtbar wurde – und kreischte mit seiner schrillen Stimme: »Aufwachen, Mädels! Die Sonne steht schon hoch«, ging zwischen den Betten herum und zog den Mädchen die Decken weg. »Aufwachen und an die Arbeit!« Die Schwestern hassten ihn, Pericle dagegen vergötterten sie, aber der wirkliche Hüter der Familie war er, Adelchi, er passte auf und kontrollierte: »Wer ist das? Und der da?« Wenn es nach Pericle gegangen wäre, hätten wir eine ganze Herde unehelicher Kälbchen gehabt.
Onkel Adelchi gefielen jedenfalls Uniformen – oder gefielen sie Großmutter? Das wird sich jetzt nicht mehr klären lassen –, körperliche Arbeit aber mochte er eher nicht; er zog, sagen wir mal, planerische oder leitende Funktionen vor, die leitenden ganz besonders, und schon mit fünfzehn oder sechzehn, als wir noch oben im Norden waren, hatte er den Antrag gestellt, um zu den Carabinieri zu gehen.
Damals fing der Wehrdienst schon früh an, und er wurde eingezogen. Großmutter war hochzufrieden: »Ah, Delchín, Delchín, du wirst Carabiniere!« Doch als er dort war, in dieser Kaserne in ich weiß nicht mehr welcher Stadt, jedenfalls weit, weit weg von zu Hause, fing er, der schon damals genauso groß und stattlich war wie heute, aber eben ein sechzehnjähriges Bürschchen, das nie etwas anderes gesehen hatte als Kuhmist und die Nebel der Polesine, da fing er an zu weinen und heulte jeden Abend unter seiner Bettdecke im Schlafsaal Rotz und Wasser. So geht das einen Abend, noch einen Abend, der Kompaniechef erfährt davon: »Aber warum weinst du denn? Hat dir jemand Unrecht getan?«
»Ich will zu meiner Mama«, sagte Onkel
Weitere Kostenlose Bücher