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Canard Saigon (German Edition)

Canard Saigon (German Edition)

Titel: Canard Saigon (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harald Friesenhahn
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Maturanten oder Akademiker. In dieser Runde fühlte ich mich gleich fehl am Platz. Der Seminarleiter war ein firmenexterner Trainer. Sein Name war Roland oder Robert. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie er genau hieß. Jedenfalls begann das Seminar höchst merkwürdig. Wir saßen, einschließlich Trainer, auf Sesseln, die kreisförmig angeordnet waren. Keine Tische, keine Unterlagen. Und der Trainer sagte kein Wort. Alle warteten auf den Beginn, aber er schwieg. Ich wurde bald unruhig. Als ältester Teilnehmer ergriff ich die Initiative und fragte, wann wir denn beginnen. Keine Antwort. Dann schlug ich vor, dass wir uns gegenseitig vorstellen sollten. Und schon ging die Diskussion los. Einige fanden den Vorschlag gut, andere lehnten ihn rundweg ab. Ich war beleidigt, der Seminarleiter schwieg weiter. Den ganzen Vormittag sagte ich nichts mehr. Meine Abneigung gegen die Gruppe und vor allem den Trainer wuchs. Beim Mittagessen setzte ich mich abseits hin. Der Nachmittag begann mit heftigen Streitereien. Die ersten Beschimpfungen folgten. Einer verließ den Raum und sagte, er habe etwas Besseres zu tun. Er hatte meine volle Zustimmung. Aber nach fünf Minuten kam er zurück und setzte sich kleinlaut wieder in die Runde. Der Trainer hatte noch immer kein Wort gesprochen. Als dann einer der jüngsten Teilnehmer meinte, ich sei ein verbitterter alter Opa und eine beleidigte Leberwurst, nur weil mein Vorschlag nicht angenommen wurde, platzte mir der Kragen. Ich beschimpfte die Gruppe als einen undisziplinierten Sauhaufen, ohne Anstand und ohne Benehmen. Auch dem Trainer warf ich vor, ein unfähiger Schmarotzer zu sein. Meine Gefühle gingen mit mir durch. Ich nagte am Tod meiner Frau und sollte eine Woche mit derart unfähigen Idioten verbringen. In mir brach der alte Sergent der Legion durch. Ich war Disziplin gewohnt, und dieser ungeordnete Haufen widerte mich an. Jedenfalls ließ ich mich zu der Äußerung hinreißen, dass die Typen allesamt keine einzige Stunde im Dschungel überleben würden. Ich wunderte mich über mich selbst, denn ich hatte in meinem Zivilleben noch nie auch nur ein Wort über meine Vergangenheit erwähnt.
    Der Tag ging turbulent zu Ende, der Trainer hatte noch immer nichts gesagt. Ich verzichtete auf das Abendessen und blieb auf meinem Zimmer. Lange überlegte ich, ob ich abreisen sollte. Aber irgendwie war die Situation eigenartig. Ich fand das gesamte Seminar zum Kotzen, aber aufgeben wollte ich auch nicht. Und so saß ich am nächsten Morgen wieder pünktlich im Seminarraum. Diesmal sprach der Trainer. Er erklärte uns, dass dies ein abgewandeltes Gruppendynamikseminar sei. Anhand unserer Reaktionen vom Vortag zeigte er auf, wie sich Gruppen bilden, wer um den informellen Führungsanspruch kämpft, wer in Opposition und wer Publikum ist.
    Ich war trotzdem noch böse. Wir spielten dann Rollenspiele, die mir bald zu blöd wurden. Ich strafte die Gruppe mit Passivität und Missachtung. Der Trainer erklärte die aktuellen Führungsrollen in unserer Gruppe. Mich bedachte er dabei fortwährend mit der Rolle des passiven Mitläufers. Ich verstand die Welt nicht mehr. Bei der Legion war ich mehrfach für meine Führungsqualitäten ausgezeichnet worden, und unter diesen Nullen sollte ich nur Mitläufer sein. Mein Ego war schwer verletzt. Mir ging es richtig schlecht. Am Nachmittag brachen dann alle Dämme. Ich ließ meiner Frustration freien Lauf und beschimpfte alle, teilweise ziemlich unflätig. Der Trainer bat mich, auf einem Stuhl Platz zu nehmen. Die anderen bildeten vor mir einen Halbkreis. Ich sollte jedem Einzelnen meine Meinung ins Gesicht sagen, während die Betroffenen nur zuhören durften. Ich kotzte mich richtig aus. Dann mussten die anderen mir ihre Meinung sagen. Und jetzt kam die Überraschung. Sie dachten überwiegend positiv über mich. Einige empfanden mich als sympathischen, intelligenten Kollegen, mit viel Lebenserfahrung. Immer wieder wurde die Frage gestellt, welche Probleme ich mit mir herumschleppe. Mein Gefühlsausbruch war für die meisten unerwartet gekommen, und nur wenige nahmen meine Verbalattacken persönlich.
    Jetzt war ich völlig durcheinander. Zwischen Eigeneinschätzung und Fremdeinschätzung lag eine riesige Kluft. Das positive Feedback der Gruppe erwischte mich an meiner empfindlichsten Stelle. In diesen Momenten zerbarst meine raue Schale und legte meinen weichen Kern frei. Auf Drängen der Gruppe gab ich zu, dass der neuerliche Verlust einer geliebten Frau mir

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