Candy
versunken in der Musik, versunken in einer anderen Welt, wurde ich mir allmählich einer Stimme bewusst. Anfangs war sie weit weg, schwebte am Rand des Bewusstseins herum und ich konnte nicht verstehen, was sie sagte. Doch als sie näher kam, wurde die Stimme deutlicher:
Joe
, sagte sie.
Hey … Joe?
Ich dachte, vielleicht ist es nur meine Einbildung, aber dann hörte ich sie wieder, diesmal deutlicher, und langsam merkte ich, dass ich noch immer in meinem Zimmer war, noch immer auf meinem Bett saß, noch immer Gitarre spielte und dass die Stimme Gina gehörte.
»Joe?«, sagte sie wieder. »Ist alles in Ordnung?«
Ich hörte auf zu spielen, und als ich aufschaute, sah ich sie mit einem belustigten Blick in der Tür stehen.
»Wer ist Candy?«, fragte sie.
»Was?«
»Candy … du hast von jemand mit dem Namen Candy gesungen.«
Einen Moment wusste ich nicht, wovon sie sprach, aber dann strichen meine Finger über die Gitarrensaiten, brachten einen Akkord hervor, den ich immer noch griff, und die Melodie kehrte zu mir zurück. Die Melodie, der Song, die Worte, die ich gesungen |53| hatte …
»Wie lange hörst du schon zu?«, fragte ich Gina ein bisschen verlegen.
»Nicht lange«, sagte sie lächelnd. »Ich hab an deine Tür geklopft, doch du hast nicht geantwortet. Ich wollte nur wissen, ob alles in Ordnung ist, sonst nichts.« Sie trat ins Zimmer und ging hinüber zum Fenster. »Das klang wirklich schön«, sagte sie. »Der Song, den du gespielt hast … hast du ihn dir ausgedacht?«
»Ich hab nur ein bisschen rumgeklimpert«, sagte ich, schob das Plektrum unter die Saiten und legte die Gitarre beiseite. »Wie spät ist es?«
»Halb zwölf – ungefähr.« Sie wandte sich vom Fenster ab und ging wieder zur Tür. »Ich wollte gerade Tee machen, bevor Mike fährt. Willst du auch einen Becher?«
»Ist Dad schon zurück?«
Sie schüttelte den Kopf. »Der kommt jetzt jedes Mal später. Neulich ist er erst kurz vor drei in der Nacht nach Hause gekommen.«
»Ja, ich weiß.«
»Wir werden ihm Hausarrest geben müssen, wenn er so weitermacht.«
Ich sah sie an und erkannte die Trauer hinter ihrem Lächeln. Sie war mit Mum nicht sonderlich gut zurechtgekommen, und obwohl sie nie ein Wort darüber verloren hatte, wusste ich, es behagte ihr nicht, dass Mum und Dad offenbar wieder zusammen waren. Um ehrlich zu sein, ich selbst war auch nicht gerade begeistert, obwohl es mich nicht so sehr störte wie Gina.
»Und, willst du jetzt Tee?«, fragte sie.
Ich nickte.
|54| Sie lächelte wieder. »Mike ist in der Küche. Warum kommst du nicht mit runter und erzählst uns alles über Candy?«
»Gibt nichts zu erzählen. Ist nur ein Song …«
»Ja?«
Ich wurde rot, weil ich an Candy dachte – an ihre Anwesenheit, ihren Körper, ihr Gesicht, ihre Stimme, ihre
Gegenwart
…
»Na, komm schon, Joe«, sagte Gina. »Ich bin doch deine Schwester, mir kannst du’s doch sagen. Wir zwei erzählen uns doch immer alles.«
»Nein, tun wir nicht.«
»Na gut, sollten wir aber«, sagte sie grinsend.
»Du erzählst mir
nichts
.«
»Tu ich
wohl
.«
»Was denn zum Beispiel? Wann hast du mir das letzte Mal was erzählt?«
»Gerade eben.«
»Wann?«
»Ich hab dir erzählt, dass ich Tee mache, stimmt’s? Was willst du mehr?«
Ich warf ihr einen Blick zu, dann stand ich auf und ging zum Fenster, um den Vorhang zu schließen.
»Also gut«, sagte sie. »Ich erzähl dir was – du kommst runter und erzählst uns von Candy und wir erzählen dir was über uns. Etwas, das niemand sonst weiß. Was hältst du davon?«
»Ich bin mir gar nicht sicher, ob ich was über euch wissen
will
.«
»Doch, du willst.«
»Es ist wahrscheinlich schrecklich langweilig …«
»Glaubst du?«
Ich sah sie an. Sie war inzwischen fast einundzwanzig, doch sie |55| wirkte noch immer kein bisschen älter als ich – ehrlich gesagt wurde sie häufig für meine jüngere Schwester gehalten. Sie wirkte frisch wie ein kleines Mädchen mit ihren großen, klaren blauen Augen, ihrem goldenen Haar und ihrer reinen, weichen Haut. Manchmal reichte das, um einen krank zu machen. An dem Abend aber, als sie dastand und mich anlächelte, in einem einfachen weißen T-Shirt und Jeans, gab es keinen Zweifel: Diese schöne junge Frau, die meine Schwester war, bedeutete mir alles.
»Also gut«, sagte ich zu ihr. »Setz du schon mal Tee auf, ich komm gleich runter.«
Gina hatte Mike vor ein paar Jahren kennen gelernt, als sie während ihrer
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