Candy

Irgendwas um den Dreh. Schwer zu sagen, so wie sie angezogen war und alles   … sie könnte auch jünger gewesen sein, soweit ich das einschätzen kann.«
    »Hat sie was genommen?«
    »Wie meinst du das?«
    »Ob sie was genommen hat   … Drogen?«
    Ich dachte drüber nach, stellte mir ihr Gesicht vor, ihre frische helle Haut   … ihre Arme, ihre Lippen, ihre Augen   … ihre Augen   …
    Wie kleine schwarze Löcher.
    »Ich weiß nicht«, sagte ich und überlegte, ob das gelogen war. »Ich glaube nicht   … ich meine, sie
schien
in Ordnung.«
    »Irgendwelche Einstiche am Arm?«
    »Nein.«
    »Und bei Iggy?«
    »Hab nicht so genau hingesehen.«
    »Aber er hatte definitiv eine Art Macht über sie?«
    »Sie war starr vor Schreck in seiner Gegenwart.«
    |62| Gina sagte: »Und bei dir war sie in Ordnung?«
    »Ja, es ging ihr gut, bevor er auftauchte. Sie war einfach   … ich weiß nicht   …« Ich schaute Gina an. »Sie war wirklich nett.«
    »War sie schön?«
    »Ja.«
    »Auf welche Art schön?«
    »Ich weiß nicht – welche Arten von schön gibt es denn?«
    »Alle möglichen«, sagte sie lächelnd. »Bezaubernd schön, sexy schön, leidenschaftlich schön, nuttig schön   … War sie nuttig?«
    »Ein bisschen, glaub ich   … aber nicht unangenehm.«
    »Nuttig und trotzdem süß?«
    »Ja   … kann sein.«
    Dann schaute ich weg, weil ich müde war und mich ein bisschen schämte. Es schien irgendwie verkehrt, so über Candy zu reden – als wär sie nur etwas zum Anschauen, ein glänzender kleiner Flitter oder ein Schmuckstück. Was immer sie war und was immer sie tat, so etwas hatte sie nicht verdient.
    »Ich bin müde«, sagte ich, streckte meine Arme und gähnte. »Ich glaub, ich verschwind mal so langsam ins Bett.«
    »Ja, gut«, sagte Gina, »war ein langer Tag für dich.«
    »Ja.«
    »Bist du sicher, dass jetzt alles wieder in Ordnung ist mit dir? Du machst dir doch keine Sorgen mehr   …?«
    »Worüber sollte ich mir Sorgen machen?«
    »Um nichts, hoffe ich«, sagte sie schulterzuckend. »Ich meine, du wirst sie doch nicht wiedersehen, oder?«
    »Wohl kaum, wenn ich nicht will, dass mir die Kehle durchgeschnitten wird.«
    »Mach dir mal darüber keine Gedanken«, sagte Mike. »Die |63| meisten von diesen Typen sind nur Sprücheklopfer. Was sie auf keinen Fall wollen, ist Ärger.«
    »Von mir haben sie keinen zu befürchten«, sagte ich und versuchte lässig zu klingen und das plötzliche Bild in meinem Kopf zu ignorieren – das Bild einer verdunkelten Höhle, aus der es golden glitzerte, ein Grinsen wie von einer Totenmaske   …
    Ich stand auf.
    »Also«, sagte ich, »dann lass ich euch mal allein.«
    Gina unterdrückte ein Gähnen. »Gu’ Nacht, Joe.«
    »Ja«, sagte Mike. »Nimm’s nicht so tragisch.«
     
    Oben ging ich ins Bad, putzte die Zähne, dann trottete ich schlapp in mein Zimmer und setzte mich auf die Bettkante. Es war halb drei Uhr morgens. Mein Körper war erschöpft und mein Kopf wie ausgelaugt, doch mein Gehirn schwirrte noch immer vor lauter Gedanken:
Was wird Dad dazu sagen, dass Gina und Mike heiraten wollen? Wie wird es sein, wenn Gina erst mal auszieht? Was ist, wenn Mum und Dad wieder heiraten und Mum zurück ins Haus zieht?
    Ich dachte zwar an diese Dinge, aber ich dachte nicht wirklich über sie
nach
– sie waren einfach da und glitten dahin, so wie auf der Oberfläche eines Teichs trockene Blätter treiben. Sie waren nicht wirklich wichtig für mich. Aber unter der Oberfläche, in der eisigen Tiefe, sah ich Dinge, die durchaus wichtig waren. Dinge, die sich bewegten, lebendige Dinge, formlose Gebilde, die in der Dunkelheit hin und her sausten und flimmerten, den Schlamm aufwühlten, im Finstern herumwirbelten und einen engen schwarzen Tunnel bildeten mit mir am einen Ende, einer Totenmaske am andern und einem blassen, hellen Geist, der irgendwo |64| dazwischen hin und her schwebte   …
    »Scheiße«, sagte ich mir und schüttelte den Kopf. »Dafür bin ich zu müde.«
    Ich stand auf und begann mich auszuziehen.
    Hemd aus   …
    Wahrscheinlich wirst du dich morgen gar nicht mehr an sie erinnern.
    Schuhe aus   …
    Sie wird nichts als ein Traum sein, der verblasst.
    Strümpfe aus   …
    Du wirst an der Bushaltestelle ein Mädchen treffen und vergessen, dass es Candy je gegeben hat.
    Hose aus   …
    Was ist denn das?
    Ehe ich die Hose auszog, sah ich nach, was in den Taschen war, und leerte dafür das ganze Kleingeld und sonstige Zeug einfach aus. Dabei stießen