Candy
bin nicht … ich kann das nicht …«
»Was kannst du nicht?«, fragte ich leise.
»Alles … alles … ich kann überhaupt nichts …«
Ihre Tränen fielen kalt wie ein Winterregen auf meinen Handrücken … und ich war angekommen. Ich war
da
. Wo ich immer hatte sein wollen. Doch jetzt war es irgendwo anders. Das hier war nicht dasselbe.
Nichts kann mehr dasselbe sein.
Nichts
ist
es mehr.
Die Frau war von der anderen Seite des Gartens herübergeeilt, jetzt hockte sie sich neben Candy, tröstete sie und flüsterte ihr all die richtigen Worte zu.
»Es ist gut … komm jetzt … es ist alles in Ordnung …« Sie wandte sich an mich – nicht unfreundlich – und sagte: »Ich denke, du gehst jetzt besser. Sie braucht etwas Ruhe.«
Ich nickte, stand auf und stützte mich an der Rückenlehne des Stuhls ab. Meine Beine zitterten. Meine Kehle war zugeschnürt.
Die Sonne brannte immer noch herab.
Ich sah Candy an. Sie zitterte und war blass, die Augen geschwollen von Tränen.
»Tut mir Leid, Joe«, flüsterte sie. »Tut mir echt Leid …«
»Schon gut«, sagte ich zu ihr. »Ist schon in Ordnung.«
Wir sahen uns noch einen Augenblick an, dann senkte sie den |411| Blick und ich ging fort.
Es ist jetzt fast sechs Monate her seit dem trüben Februartag, als ich Candy das erste Mal traf, und ich kann es noch immer schwer glauben. Wenn ich hier am Fenster sitze und einfach in die Vergangenheit starre oder wenn ich auf dem Boden liege und mir meinen ganzen Himmel vorstelle, merke ich oft, wie ich wegdrifte zurück zum Anfang, zu den letzten paar Minuten meiner Vor-Candy-Existenz, als ich noch einfach ein Junge war … einfach ein Junge in einem Zug, ein Junge mit einer Beule, ein Junge, der eine schwarze Mütze mit Sternen trug.
Ich war unschuldig damals.
Ich wusste nichts.
Und in gewisser Weise hat sich daran nicht viel verändert – ich weiß immer noch nichts.
Ich weiß nicht, was mit Candy geschehen ist.
Ich weiß nicht, ob sie den Verstand verloren hat.
Ich weiß nicht, wann ich sie wiedersehen werde.
Der einzige Unterschied ist meiner Meinung nach, dass ich weiß, dass das keine Rolle spielt. Ich weiß, ich muss nichts wissen, und ich weiß, ich muss keine Angst davor haben, nichts zu wissen – ich muss nur hier sein.
In Liebe und Vertrauen.
Ich muss nur daran glauben.
Es ist nicht einfach – in einem Vakuum zu leben, in Gedanken zu leben und zu sterben … das, was du willst, so dringend zu wollen, dass du alles andere dafür aufgeben würdest. Aber die Zeit läuft weiter, die Tage vergehen … und solange es noch ein Morgen gibt, bleibt immer eine Chance.
|412| Kürzlich fand ich heraus, dass Candy die Klinik verlassen hat, aber niemand will mir sagen, wo sie jetzt ist. Ich habe es geschafft, ihre Eltern ausfindig zu machen, und eine Weile hab ich ihr Haus beschattet, aber dort scheint sie nicht zu sein. Ihre Mutter und ihr Vater kennen bestimmt den Ort, wo sie ist, doch ich weiß nicht, ob ich sie fragen soll, und Mike scheint ziemlich unwillig, mir noch einmal zu helfen … was ich gut nachvollziehen kann. Es scheint also so, als müsste ich auf den Prozess warten, ehe ich sie wiedersehe. Ich weiß nicht, wann das sein wird, und ich weiß auch nicht, ob es dann überhaupt erlaubt sein wird, dass wir miteinander sprechen, aber wenigstens bekomme ich sie dort zu sehen.
Und dann, danach, wenn alles vorbei ist … und alles gut ausgeht … oder auch, wenn
nicht
alles gut ausgeht …
Tja – wer weiß?
Ich glaube, wir werden abwarten müssen.
Informationen zum Buch
Candy fesselt Joe vom allerersten Moment an - ihr Lächeln, ihre Haut, ihre Augen. Er weiß sehr wohl, dass er dieses Mädchen ganz schnell vergessen sollte, denn seine Liebe hat kaum eine Chance und jeder weitere Schritt ist gefährlich: Candy ist heroinabhängig, sie geht auf den Strich und ihr brutaler Zuhälter hat Joe unmissverständlich klargemacht, was passiert, wenn er sie wiedersieht.
Trotzdem schreibt Joe einen Song für Candy und trifft sich mit ihr - bis sich die Dinge so zuspitzen, dass Joe und Candy durch halb England fliehen müssen.
Informationen zum Autor
Kevin Brooks
, geboren 1959, studierte in Birmingham und London. Sein Geld verdiente er lange Zeit mit Gelegenheitsjobs. Seit dem überwältigenden Erfolg seines Debütromans ›Martyn Pig‹ ist er freier Schriftsteller. Für seine Arbeiten wurde er mit renommierten Preisen ausgezeichnet, u. a. zweifach
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