Cantucci-Herzen brechen nicht: Roman (German Edition)
hinaus in die Diele wie einen unerwünschten Kunden.
Rose riss wütend die Wohnungstür auf, hielt aber kurz inne, um eine Lunge voll Luft herauszuschnauben, bevor sie hinausging. » Du bist meine Schwester, und ich liebe dich«, sagte sie, während sie sich zu Lily umdrehte. Das Rot in ihren Wangen war zurückgegangen. » Ich halte gar nicht so wenig von dir. Ich halte sogar sehr viel von dir. Das ist ja das Problem. Du hast mein ganzes Leben lang auf mich aufgepasst, und ich wäre wahrscheinlich gar nicht hier, wenn du nicht gewesen wärst. Aber bleib nicht diese kalte, einsame Person, in die du dich verwandelt hast, Lily. Das ist nicht dein echtes Ich. Das weiß ich. Bitte, geh zu Daniel. Um Himmels willen, klär das mit ihm. Sicher, es ist mal wieder typisch trunkener Tourismus, aber die Idee ist nicht schlecht. Nur bitte, bitte, Lil, ich flehe dich an, kehr das nicht auch wieder unter den Teppich.«
» Auf Wiedersehen, Rose«, sagte Lily und machte ihr die Tür vor der Nase zu. Trunkener Tourismus? Wovon zur Hölle redete sie?
4
Violetta und Luciana trippelten seitlich aus ihrem beengten Wohnbereich durch die Schwingtür in die angrenzende Bäckerei wie ein Paar verkrüppelte Krabben.
Ihre Familie, die Ferrettis, hatte ihre berühmten Cantucci schon gebacken und verkauft, fast hundert Jahre bevor die Schwestern zur Welt gekommen waren, und es hatte sich kaum etwas verändert in der ganzen Zeit.
Ihre Cantucci – ein köstliches italienisches Gebäck, das einem das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ und das man in süßen Wein oder in Kaffee tunken konnte beziehungsweise das man aus keinem besonderen Grund zu jeder Tages- und Nachtzeit naschen konnte– genossen immer noch den besten Ruf in der Toskana.
An diesen Ruf klammerten sich die Schwestern leidenschaftlich, nicht nur weil es ihr Geburtsrecht war, sondern weil die Borsolini-Brüder unten am Hügel mittlerweile auch Cantucci verkauften.
Sie stellten sie nicht selbst her, sondern kauften sie in Milano, und laut Violetta schmeckten sie wie Cacca. Aber die weit verzweigte Familie der Borsolinis, die mittlerweile viel größer war als noch zu Zeiten der Originalbrüder, machte ein Bombengeschäft damit und verkaufte ganze Wagenladungen von dieser kommerziellen Konfektionsware in allen möglichen Geschmacksrichtungen und Farben, von denen keine die geringste Authentizität besaß. Einer der jüngeren Söhne dekorierte sogar jede Woche das Schaufenster neu und hatte ein ziemlich dramatisches Talent dafür.
Die Ferretti-Schwestern dagegen backten ihre Cantucci selbst, in einer einzigen Geschmacksrichtung ( Cantucci -Geschmack) und in einer Farbe ( Cantucci -farben) und in sehr kleinen– und immer kleiner werdenden Mengen.
Die Marmortheke beinhaltete eine spärliche Sammlung von großen bauchigen Glasschüsseln, in denen ihre selbst gemachten Kekse lagerten. Die Ferrettis hatten keinen Nachkommen, der eingefleischter Junggeselle war und eine ins Auge springende Schaufensterdekoration zusammenstellen konnte. In ihrem Schaufenster standen ein leerer Tisch und ein einzelner Stuhl.
An diesem speziellen Morgen, dem Morgen des Pochens, aber nicht des Kribbelns, schob Violetta eine der Glasschüsseln zur Seite und stützte sich auf der Theke ab, um zu verschnaufen. Die Schwestern waren spät dran, aber jeder Weg schien neuerdings doppelt so viel Zeit zu beanspruchen. Selbst das Bücken, um ein Geschirrtuch aufzuheben, konnte eine halbe Stunde dauern, wenn Schultern, Hüften und Knie sich weigerten, anzutreten und zu kooperieren. Manchmal musste das Geschirrtuch einfach am Boden liegen bleiben, bis jemand mit besser geölten Gelenken vorbeikam, der sich nicht so schwertat damit, es wieder an seinen Platz zu hängen.
» Wann sind wir so alt geworden?«, fragte Violetta ihre Schwester.
» Ich glaube, das war in den Achtzigern«, antwortete Luciana. » Aber wer kann das noch sagen?«
Sie lachten, ein Laut, der bei ihrem Alter an zwei Wüstentiere erinnerte, die sich um einen Quietscheball stritten. Aber heute hatte Violettas Glucksen einen kläglichen Unterton.
Sie spürte ihr Alter, und sie hatte Angst, ja, jetzt war es heraus, Angst vor dem, was sie hinter der Ecke erwartete. Altwerden war nichts für zarte Gemüter. Es tat weh, und es verschlang viel Zeit, und was bekam man letzten Endes? Ein Loch in der Erde und einen Grabstein, wenn man Glück hatte. Dabei gab es noch so viel zu erledigen!
Das langsame Vorankommen der Schwestern wurde unterbrochen durch
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