Cantucci-Herzen brechen nicht: Roman (German Edition)
Zeh los, befreite sich mit knackenden Knochen aus dem Berg von Federbetten und Decken und schlurfte hinüber zu der schiefen Frisierkommode in der Ecke des kleinen, dunklen Zimmers.
Aus der mittleren Ablage nahm sie einen angelaufenen Silberrahmen mit dem Porträt eines stattlichen jungen Mannes in Soldatenuniform. Sie führte das Porträt an ihre Lippen und drückte einen Kuss darauf, bevor sie im nächsten Moment einen erschrockenen Schrei ausstieß.
» Was in Teufels Namen macht der denn hier?«, fragte sie und starrte auf das Porträt.
Luciana hob den Kopf, und bevor aus einer Mücke ein Elefant werden konnte, forderte sie ihre Schwester auf, ihr das Bild zu geben. » Spar dir das Theater«, sagte sie mit warnendem Unterton. » Das hat nichts zu bedeuten, außer dass deine Augen immer schlechter werden.«
Violetta schüttelte ungläubig den Kopf angesichts der Aussicht, dass sie zunehmend stärker abbaute, und gab das Porträt wie gebeten weiter, bevor sie zurückschlurfte zur Kommode, wo ein zweiter angelaufener Bilderrahmen stand, der scheinbar das gleiche Porträt enthielt. Dieses hielt sie zunächst auf Armlänge von sich– ihre Augen hatten tatsächlich stark nachgelassen–, und nachdem sie sich vergewissert hatte, dass dies definitiv der Richtige war, drückte sie den nächsten Kuss darauf.
» Guten Morgen, Salvatore«, sagte sie. » Ich hoffe, du hast gut geschlafen.« Ein Schmerz durchzuckte ihre Brust, sodass sie sich fast krümmte. Sie hatte ihn schon einmal gespürt, dachte sie. Oder war das ein neuer Schmerz für die Liste der Gebrechen, die sie plagten?
» Und auch dir einen guten Morgen, Silvio«, sagte Luciana zu ihrem Portät. » Und pass gefälligst auf, wo du dich das nächste Mal hinstellst, oder du landest wieder in der Serviettenschublade.«
» Ich werde Kaffee aufsetzen«, sagte Violetta, die darüber hinwegging. » Es ist Zeit aufzustehen. Wir haben heute viel zu tun, selbst wenn das meiste davon nur Denken ist.«
Fürs Denken war weder ein Spagat erforderlich noch ein Sprint um die Piazza grande, war Lucianas Meinung. Also konnte es auch im Liegen erledigt werden. Aber Violetta war der Boss. Sie war zehn Monate älter und traf alle wichtigen Entscheidungen. Außerdem hatte sie den berühmten sechsten Sinn für Herzensangelegenheiten, weshalb Luciana wie üblich damit zufrieden war, ihren Anweisungen zu folgen.
» Ganz meine Meinung«, sagte sie. » Und ich habe bereits angefangen mit dem Denken. Du auch?«
» Ich finde, wir hätten mal wieder ein oder zwei Happy-Ends verdient. Also sollten wir schnell den Hintern hochbekommen und aktiv werden.«
» Es gibt wirklich keinen Grund, so grantig zu sein«, meckerte Luciana. » Wir hatten unser Happy End bei Enrico und der Tochter des Mechanikers«, erinnerte sie ihre Schwester. » Obwohl sie ihn dafür erst unter seinem Motorrad finden musste, über und über besudelt mit Kirschlikör. Das Gesicht, das sie gemacht hat, als ihr bewusst wurde, dass es gar kein Blut war! Das war ›der Moment‹, wie ich mich entsinne.«
» Ja«, sagte Violetta, ein kleines bisschen weicher gestimmt. » Das war ›der Moment‹.« Auch wenn die Sorgen an ihrer Seele nagten wie ein Kätzchen an einem Wollknäuel, wusste sie nach wie vor ›den Moment‹ zu schätzen.
» Ich liebe ›den Moment‹ einfach«, seufzte Luciana. » Obwohl es mich überrascht, wie oft das in ein Riesenchaos ausartet.«
» Nun, die Liebe ist ein Riesenchaos«, erwiderte Violetta. » Und jetzt raus aus den Federn.«
Also kletterte Luciana heraus.
Während Violetta in der Küche zugange war, spürte sie einen Schauer, der sich um ihr gekrümmtes Rückgrat wand und durch ihren Brustkorb hüpfte, wo er dem Schmerz Gesellschaft leistete, der dort saß wie eine wachsame Taube, die auf Ärger aus war– und ihn fand.
Es war ihre Nase, ihre runzlige Nase. Sie hatte gar nicht gekribbelt. Nicht ein einziges Mal. Nicht für eine Sekunde. Und sie konnte schnuppern so viel sie wollte– sie nahm nicht den geringsten Hauch des süßen, verlockenden Dufts von Orangenblüten wahr.
3
In den Tagen, als Lily und ihre Schwester Rose noch miteinander redeten, hatten sie einen Ausdruck dafür erfunden, wenn sie unter dem Einfluss von zu viel Margarita haarsträubende Dinge im Internet buchten. Sie nannten das » trunkener Tourismus«.
Trunkener Tourismus war der Grund für ihren Besuch im Madison Square Garden, um Madonna live zu sehen, nur weil Rose gehört hatte, dass Madonnas Haut an
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