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Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)

Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)

Titel: Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jens Steiner
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da stand der Flegel in meinem Teich und fuchtelte mit seinem Schmetterlingsnetz herum. Der sollte seine Lektion haben, das war klar, doch plötzlich begann er so jämmerlich zu heulen, dass ich ihn gehen ließ. Nicht aus Mitleid, nein, aus Ekel.
    Am nächsten Tag fand ich einen Rucksack im zertrampelten Ufergewächs. Mit dem Rechen lüpfte ich ihn aus den scharfkantigen Schlingen heraus. Er war voller Kleiner-Junge-Krimskrams: Taschenmesser, Würmer, Reagenzgläser. Ich schleuderte alles in den Garten des Nachbarn schräg hinten rechts und dachte: Was ist los mit unserer Zeit? Werden sie alle wahnsinnig da draußen, jenseits meiner Hecken? Erzählen Märchen über einen Tennisspieler, der bloß in Ruhe gelassen werden will, und lassen ihre eigenen Kinder verwildern? Und dann dachte ich an meine eigenen Kinder und fragte mich, ob alle, die auf uns folgen, unweigerlich verwildern und uns selbst mit in ihre Verwilderung reißen.
    Als ich Tage später mein Zehn-Uhr-Bier aus dem Kühlschrank holte, klingelte das Telefon. Ich hob ab und prompt drang ein Wortschwall auf mich ein. Unsere Tochter. Das Thema war ein Angebot im Neckermann-Katalog: »Eine Woche dreihundertneunundvierzig Euro, hoteleigener Strand und Kinderrutschbahn. Das ist Last-Second, ich muss heute noch zusagen!« »Wer«, antwortete ich, »zahlt eigentlich den Blechschaden meines Passats?« Sie sagte etwas von peinlicher Rostlaube und Fremdschämen, ich hörte nicht genau zu. Stattdessen starrte ich auf den stumm laufenden Fernseher und sah einen Mann in weißer Hose und Hawaiihemd über einen Strand schlendern. Die Worte meiner Tochter drangen an meinem Ohr vorbei. Irgendwann sagte ich: »Jaja, schon gut, ich übernehme es.« Ein weiterer Redeschwall folgte, ich hielt mir das kühle Bier an die Stirn. Dann plötzlich ein Satz, der mich aufhorchen ließ: »Da können die noch lange diskutieren, er hatte keine Lust mehr, geht das den Leuten nicht in den Kopf?« – »Wer?« – »Na, wer denn? Der Süße natürlich.« – »Du meinst den Netten.« – »Ja, nett ist er auch, aber was ich sagen will …« Ich nahm die Fernbedienung vom Sofatisch und drückte auf Vol. +. Eine Schlagermelodie schwoll in den Raum. Ich drückte auf Vol. –. Die Schlagermelodie zog sich in den Glotzkasten zurück. »… und weißt du was«, schnarrte die Stimme meiner Tochter, »es ist so einfach, ihn zu durchschauen. Ich kann es kaum glauben, dass niemand darauf kommt. Er will nur so sein wie wir, denn über uns alle weiß niemand Bescheid, und so will er auch sein, keiner soll über ihn Bescheid wissen, er hat das Recht dazu, und deshalb hat er genau das Richtige gemacht. Dass er sich nie mehr blicken lasse!« – »Soso«, murmelte ich. Ich drückte auf Play und nichts passierte. »Er könnte bei mir wohnen«, sagte sie und kicherte. »Warum soll er bei dir wohnen wollen?«, fragte ich. »Na, weil er genug von dieser Hexe hat. Er will eine richtige Frau, die ihm seine Wünsche von den Lippen abliest«, blaffte meine Tochter zurück. »Er will also mit drei Plärrkindern in einer schäbigen Zweizimmerwohnung hausen«, konterte ich, »und in den Sommerferien nach Rimini fahren und dort in einem verdammten Neckermannhotel schlafen und am Proletenstrand liegen, und diesen Job will er auch haben, deinen Elendsjob, natürlich will er das, er will den ganzen Tag Parkbußen verteilen und sich von gebeutelten Automobilisten anschnauzen lassen, aber selbstverständlich.« Unser Telefongespräch endete wie immer. Sie greinte. Ich schwieg. Der singende Strandcowboy war von einem dicken Paar auf einem Sofa abgelöst worden. Ihre Füße berührten nur knapp den Boden, beide schienen sich großartig zu amüsieren. Ich ließ meine Tochter eine halbe Minute weiterheulen. Dann legte ich auf.
    Vor mir stand meine Frau. Ich sah sie stumm an. Sie sagte: »Er kann unseren Pool graben.« – »Wer?« – »Der Nette«, antwortete sie. Ich wollte sie fragen, wie sie auf diese Idee komme, aber sie war bereits davongeschlurft. Hatte sie »der Nette« gesagt oder war das nur ein Rülpser gewesen? Ich dachte: Wie ist der Nette eigentlich gewesen? Das heißt, wie ist er wirklich gewesen – nicht so, wie sich die Leute an ihn erinnern –, sondern wirklich, also in echt?
    Ich trank mein Bier aus, ging nach draußen, stieg in den kühlen Schacht. Als ich zu rackern begann, hatte ich noch immer nicht aufgehört, an ihn zu denken. Nett, ja, klar war er nett gewesen, aber auch peinlich. Alle

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