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Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)

Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)

Titel: Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jens Steiner
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Was weiter passieren wird: Er geht hinein für die morgendliche Sitzung, exakt zehn Minuten später erscheint er erneut auf dem Balkon, mit Kühlbox und Glas, mit Zigaretten und Aschenbecher. Er installiert seinen massigen Körper am Campingtisch, öffnet die Kühlbox, sucht sich die Weinflasche für den Morgen aus. Schenkt ein, schaut um sich, trinkt. Nach und nach beträufelt sein Blick voller Bitterkeit, Angst und Ranküne die kleine Welt vor dem Balkon und der Aschenbecher füllt sich.
    Ich ziehe mich zurück. Es folgt der schwerste Teil meines Tages. Seit zwanzig Jahren meistere ich diese Stunde allein. Ausziehen, Darm entleeren, duschen, abtrocknen, rasieren, anziehen, Zähne putzen. Die Prozedur ist eine einzige Demütigung. Aber das ist nicht das Problem. Auch nicht, dass ich so lange dafür brauche. Das Problem ist, dass ich mir nichts sehnlicher wünsche, als dabei Schmerzen zu verspüren. Nicht die falschen Nervensignale, die einen Querschnittgelähmten ständig durchzucken, sondern wahre Qual, die mir vom Leben erzählt.
    Wenn ich den Rollstuhl wieder ans Fenster steuere, ist sein Aschenbecher schon fast voll. Der Pegel im Weinglas bewegt sich im Rhythmus seines Trinkens und Nachschenkens. Um die Mittagszeit wird die erste Flasche leer sein. Durchs Fernrohr schaue ich ihn mir genauer an. Er sieht heute recht ordentlich aus: die Haare an den Schädel geklebt, das Hemd korrekt geknöpft. Doch wenn er sich wie jetzt gekämmt hat, sieht man auch, wie schnell sein Haaransatz schwindet. Ich verfolge seine winzigen Bewegungen, sehe, wie er sich an die Brüstung lehnt und den Kopf nach vorne reckt. Wie er auf die graue Fläche mit aufgemaltem Zebrastreifen hinuntersieht, dann zu dem kleinen Platz gegenüber, der Linde und dem Brunnen. Direkt unter ihm, für ihn nicht sichtbar, ist der Eingang zum Munzinger-Laden. Ich bewege das Fernrohr um wenige Zentimeter. Eine Alte mit Einkaufswägelchen tritt aus dem Laden. Sie bleibt stehen, dreht sich um, reißt den Mund auf, verwirft die Hände. Ich schwenke das Fernrohr zurück. Er greift zum Glas, trinkt und kneift die Augenbrauen zusammen. Neuer Schwenk, die Alte winkt in den Laden hinein, zieht los. Schwenk, er stellt das Glas hin, hebt den Kopf über die Brüstung. Sein Blick voller Bitterkeit, Angst und Ranküne sieht – noch ein Schwenk – eine gebückte graue Menschengestalt auf grauer Fläche, folgt ihr über den Zebrastreifen, an Brunnen und Linde vorbei und bleibt schließlich an der Ecke hängen, hinter der die Gestalt verschwindet.
    Jeden Tag das Gleiche. Am Fenster mein Gesicht, eisern, wachsam. Ich beobachte. Verschiedene Instrumente stehen mir hierbei zur Verfügung. Drei Fernrohre an fest montierter Biegefeder, zwei Spiegel am Fenster, mithilfe derer ich die Straße vor meinem Haus hinauf- und hinuntersehen kann, daneben eine meteorologische Kleinanlage, mit Thermo-, Baro- und Hygrometer. Pausenlos verfolge ich die Versuchsreihen, die der Lauf der Welt anordnet. Menschen bewegen sich hierhin und dorthin. Manche langsam und in kleinen Schritten, andere schnell und ausholend. Sie kollidieren, reißen einander aus der Bahn, verbauen sich gegenseitig die Zukunft. Sie verletzen sich, werden krank, sterben. Ich beobachte sie und stelle mir vor, was als Nächstes kommt.
    Auch der Dicke auf dem Balkon versucht manchmal, etwas zu sehen. Dann hebt er seinen Blick zu jener Stelle, wo eine flache Bergkuppe hinter dem Dorf zu erkennen ist, lässt ihn zu dem umgebauten Bauernhof im Vordergrund gleiten, den eine dreiköpfige Familie mit Labrador bewohnt, sieht vielleicht ein Kind, eine Mutter, ein Fahrrad an der Hauswand, gleitet weiter zu dem massiven Steinbau an der Straße, der eine Filiale der Raiffeisenbank beherbergt, gleich daneben ein ebenso massives Doppeleinfamilienhaus – er rätselt über die Anordnung von Gegenständen auf dem Grundstück: Tretroller zwischen Normbriefkasten und Wäschespinne –, es folgt ein Streifen Hintergrund – weite Landschaft mit Baumgruppe –, danach wieder Vordergrund, ein Riegelhaus aus dem 18. Jahrhundert, braunes Fachwerk, tiefe Fensterreihen. Hinter einem dieser Fenster sitze ich. Es wäre so einfach, denke ich, während ich seinen Blick empfange. Er müsste seinen Kopf bloß ein kleines Stück über den Rand seiner Welt heben. Um mich zu sehen, um seine eigene Geschichte zu begreifen.
    Ein Kommen und Gehen im Munzinger-Laden. Manchmal zieht eine Elster im Baum meine Aufmerksamkeit auf sich. Sonnenlicht im Wechsel

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