Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)
mit Wolkenschatten auf dem gekörnten Straßenbelag. Alles, was geschieht, wenn nichts geschieht. Wie ein Generalbass. Melodien laufen über ihn hinweg, oft mehrere gleichzeitig. Manchmal schält sich eine einzelne heraus, und die anderen sinken in den Hintergrund. So wie in diesem Augenblick. Eine brüchige Melodie ist es, nahezu unhörbar. Langsam schleppt sie sich durch die Straßen, kommt näher, wird deutlicher. Das Auge am zweiten Fernrohr, verfolge ich die Gestalt, die zu der Melodie gehört. Ich kenne sie nur zu gut. Ein Mann wie ein krakeliger Strich in der Landschaft. In seinem Trott wird er sich zur Kreuzung hinunterbewegen, am Laden vorbei, in Richtung der Wirtschaft Hirscheneck. Gleichzeitig wird sich der Dicke auf dem Balkon abwenden, er wird sich bücken, so tief er kann, hin zu seiner Kühlbox. Er wird – so stelle ich es mir vor – still zu zählen beginnen und erst bei fünfzig wieder auftauchen.
Ich weiß Bescheid. Die zwei Brüder wohnen wenige Straßen voneinander entfernt, und doch haben sie sich seit mehr als dreißig Jahren nicht gesehen. Viermal pro Tag geht der Jüngere unten vorbei, während sich der ältere oben versteckt. Zweimal Hirscheneck und zurück, zwei-und-zweimal abtauchen und bis fünfzig zählen. Sie wissen kaum mehr, warum sie tun, was sie tun. Ihre Vergangenheit hat sich tief in sie eingenistet und sie gezeichnet: Dem einen hat sie die Form einer Birne gegeben, aus dem anderen einen dürren Baum von einem Menschen gemacht. Zwei Leben wie endlose Höhlensysteme, zwei verschreckte Subjekte, durch rabenschwarze Stollen taumelnd. Unsichtbar wache ich über sie, ich kann nicht anders. In ihren Leben sehe ich die Spuren meines eigenen Lebens.
Der Krakelstrich geht am Laden vorbei. Er trägt Arbeiterjeans und ein verwaschenes T-Shirt, seine alltägliche Kluft. Auf dem T-Shirt steht »Megadeth«, die Schrift ist fast nicht mehr zu erkennen. Ich richte meine Position am Fenster neu aus, ziehe das dritte Fernrohr heran. Ich sehe die groben Gardinen der Gaststube, von denen sich jetzt eine bewegt. Eine Hand erscheint, dann ein Gesicht. Es ist die Kellnerin. Ihr Gesicht verschwindet, drei Sekunden später auch die Hand. Unten vor der Treppe zwei Kleintransporter mit Ladefläche, »Kundenmaurer Bachmann« und »Kurt Hösli – Ihr Partner für Gartenanlagen«. Der dürre Bruder kommt an der Treppe der Hirscheneck an. Ich ziehe den Kopf vom Fernrohr weg und blicke auf den Wecker, der vor mir auf dem Fenstersims steht. Punkt neun Uhr. In einer halben Stunde wird er wieder kommen. Und wieder wird der Dicke auf dem Balkon abtauchen und die Fünfzig abzählen.
Fein gestrichelte Bewegungen zwischen Baumkronen und Dächern: Eine Elster jagt einer Elster hinterher. Während die Vögel tun, was ihnen ihr Erbe auferlegt, greife ich zur Tasse und schlürfe leise am Darjeeling. Auch meine Freiheit hat Grenzen. Ich muss wieder einmal über die Vergangenheit der zwei Brüder nachdenken.
Hier im Dorf hat man die Familie schon immer gekannt. Armselig lebten sie, dabei besaß der Vater viel Ackerland, das er verpachtete. Der grantige Einzelgänger verbrachte seine Tage mit dem Flechten von Körben. Die Söhne hatten seine strengen Gesichtszüge geerbt und versuchten, sie mit Faxen und Grimassen loszuwerden. Die Schwester war eine Schönheit, aber immer allein. Die Mutter, still und arbeitssam, verließ selten das Haus. Zur Familie gehörte noch ein Onkel, ein Haderlump und Säufer, dem der Hausherr Asyl gewährte. Die zwei Söhne litten unter diesem Vater, dass es den Leuten fast das Herz brach. Ich kannte die Familie nicht, doch meine Haushälterin, die zweimal die Woche vorbeikommt, hat mir von ihnen erzählt. Damals kursierten Geschichten. Mit gesenkter Stimme sprach man von dem Schuppen hinter dem Haus, im staubigen Düsterlicht des Vaters Hand, mit einer Haselrute zwei blanke Bubenhintern bearbeitend. Auch von dem Kellerloch sprach man, und dem maroden Onkel, dort unten tagelang sitzend, und dem Schlüssel für das Vorhängeschloss, der an des Hausvaters Hosengurt hing. Diese Dinge und andere erzählte man sich. Und alle warfen sich heimliche Blicke zu, wenn die Mutter im Munzinger-Laden auftauchte. In dieser Welt wuchsen die drei Kinder heran, alle sehr schweigsam, alle sehr flüchtige Erscheinungen, und doch schienen sie zurechtzukommen.
Bis der Unfall passierte. Jeder hier kennt die Geschichte. Der Alte war mit seiner Frau auf dem Nachhauseweg vom Herbstmarkt im Nachbarbezirk. Seit vielen
Weitere Kostenlose Bücher