Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)
Blumenteppich, mein Sohn und ich am Komposthaufen. Wir blickten auf das Gewimmel von Käfern und Maden, schnupperten an der gärfrischen Erde. Mein Sohn sagte: »In jedem Kleeblatt steckt schon der nächste Kuhfladen.« Wir schauten uns an, und die Welt stand still. Wir zwei, dachte ich, wir sind anders. Wir halten uns die Leute vom Leib und haben eine gute Zeit. Mehr dachte ich nicht. Und doch wusste ich bereits in diesem Augenblick, was kommen würde. Das Wissen hatte sich in einer kalten Schicht auf meine Haut gelegt. Ich stand auf und blieb bei der Vogelscheuche stehen, die Sep gebastelt hatte. Sie blickte in eine unbestimmte Ferne, als ob sie noch mehr als ich über die Zukunft wüsste. Ich wandte mich von ihr ab, ging zum Unterstand, um die Schubkarre zu holen. Und da hörte ich es, ich höre es jetzt noch, dieses Tappen von Schuhen auf Schieferplatten, für alle Tage meines Lebens werde ich es hören. Dann ein Scharren. Ein Piepsen. Ich drehte mich um.
Blitzschnell bewegte sie sich. Schon war sie am Eingang meines Gartengrundstücks angelangt, zwängte sich durch das windschiefe Tor. Auf ihrem Arm unser Sohn, reglos, als ob auch er es erwartet hätte. Auf dem Kiesweg beschleunigte sie ihren Schritt. Ich stand wie angewurzelt da und sah ihr nach. Sie begann zu rennen, mein Sohn schlingerte auf ihrem Arm. Weiter vorne am Wegrand stand ein Auto, Magda ging darauf zu, die Beifahrertür öffnete sich, sie stieg ein, der Motor heulte auf, das Auto verschwand in einer Staubwolke. Und wieder war es still, wie immer hier auf meinem Grundstück. Die Vogelscheuche machte keinen Wank, aber ich wusste, sie hatte alles gesehen.
Ich verräumte das Werkzeug und machte mich auf den Weg. Ich hatte es nicht eilig, dennoch nahm ich die Abkürzung über den Feldweg, der an der alten Hunderennbahn vorbeiführt, vielleicht weil über dem wilden Gras der Rennbahn ein Mäusebussard kreiste. Ich kam ins Dorf hinein. Der nette Garagist nickte mir zu, ich nickte zurück. Ich spazierte an der Molkerei und am Kindergarten vorbei, und als ich bei der Bäckerei war, sah ich unsere Haustür. Sie stand offen.
Ich hatte immer gedacht: Die Familie hält dich über dem Abgrund, denn sie ist das letzte Sicherheitsnetz, das dich zwar nicht vor jedem Sturz schützt, aber ganz sicher vor dem letzten, tiefsten Fall. Das hatte ich gedacht. Ich hatte wirklich nie viel begriffen.
Die Wohnung war fast komplett ausgeräumt. Alle Bücher und Schallplatten waren weg, auch die Lampen und die Vasen, in der Küche standen noch ein paar Töpfe und zwei Tassen, eine Gabel und ein Messer lagen neben dem Gasherd, im Schlafzimmer kein Bett, keine Kommode, ein gähnend leerer Schrank, die wenigen übriggebliebenen Kleidungsstücke waren über die ganze Wohnung verteilt. Ich sank zu Boden.
Die Tage und Nächte, die folgten, waren kaum voneinander zu unterscheiden. Bleischwere Träume boxten sich durch die Nervenbahnen meines Gehirns, alles Varianten ein und derselben Geschichte: Mein Sohn, der wie ein Luftballon in die Höhe schwebt, ich selber, der ich hochspringe, um ihn zu fassen, doch jedes Mal erwische ich ihn knapp nicht, er schwebt mit traurigem Blick davon und ich schaue ihm stumm hinterher, schrumpfe auf Daumengröße zusammen, sinke zwischen riesigen Gräsern zu Boden. Hell und dunkel lösten sich ab, die Tage und die Nächte rasten an mir vorbei. Mein Sohn flog mir unablässig davon, während ich mich nach ihm streckte und hinfiel und durch turmhohe Graswälder taumelte. Immer wieder. Bis ich den Unterschied zwischen Stehen und Liegen, Himmel und Erde, Gräsern und Bäumen nicht mehr kannte. Dann begab ich mich auf die Suche.
Ich weiß nicht, wie lange es dauerte, bis ich herausfand, wo Magda ihn hingebracht hatte. Eine Arbeitskollegin von ihr, die im Bezirkshauptstädtchen wohnte, hatte sie bei sich aufgenommen. Ich stieg auf mein Fahrrad, schwankte auf ungewohnt hohem Sattel durch blühende Landschaften. Bereits auf der Straße vor dem Haus wurde ich von der Arbeitskollegin empfangen. Nein, Magda sei grad nicht da, aber schön, mich zu sehen, prächtiges Wetter für eine Fahrradtour, nicht wahr. Kurz darauf gesellte sich ein Nachbar zu uns, der sich als Sozialarbeiter ausgab, oder war es umgekehrt? »Aha, der Gärtner, dann sind wir ja quasi Kollegen, gell?« Warum Kollegen, dachte ich, warum quasi? Er lud mich zum Kaffee ein, ich winkte ab und kletterte auf mein Fahrrad, das immer größer zu werden schien. Alle paar Tage fuhr ich wieder hin, und
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