Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)
daneben zwei Dutzend verknäuelte kleine Körper, lauter getigerte Fellhaufen, blassrot, grau und braun. Und am Schluss der massige Klumpen in Flanelljacke, alter Cordhose und Mokassins. Er war an den stinkenden Berg herangetreten und hatte mit den Fingerspitzen an den Haaren gezogen. Langsam hatte sich das Gesicht ihm zugewandt. Kein Grinsen, nur tiefe Falten und ein Anschein von Seelenfriede.
Nein, er war nicht erschrocken. Er hatte das Gesicht in Ruhe angeschaut, und von Anfang an hatten sich Interesse und Trauer die Waage gehalten. Er hatte zuvor noch nie einen toten Menschen gesehen, und doch kam ihm der Anblick vertraut vor. Ein paar Tränen wurden aus seinen Augen geschwemmt. Schon lange war er auf sie vorbereitet. Er war erleichtert über sie, weil sie den toten Freund ehrten, aber auch weil sie ihm so schwerelos über das Gesicht perlten. Als er sie mit dem Handrücken abwischte, war der Fluss schon wieder versiegt. Er drehte das Gesicht des Toten weg und erblickte den Lederbeutel, der zwischen den ausgeleckten Whiskasdosen lag. Er hob ihn auf und öffnete ihn. Wenige Münzen, ein Foto von einem Hund, ein alter Ausweis, zweimal gefaltet. Er klappte den Ausweis auf und erkannte den Jüngling auf dem halb zerschmirgelten Foto sofort. Name: Bär. Vorname: Georg. Geburtsjahr: 1952. Bürgerort: Zürich. Ihm fiel dieser Bankierssohn ein, der vor Jahrzehnten spurlos verschwunden war. Die Zeitungen waren damals voll davon gewesen. Gerüchte hatten die Runde gemacht, er erinnerte sich nicht mehr genau, man hatte international nach ihm gefahndet, doch der Bankierssohn war nicht mehr aufgetaucht. Entführt, umgebracht und vergraben, hatte es am Schluss geheißen. Möglich, dachte er in der Düsternis der Scheune und faltete den Ausweis wieder zusammen, vielleicht aber hat der Bankerbe sich einfach davongemacht. Er steckte den Ausweis in die Hosentasche und legte den Lederbeutel zurück. Er wollte die Geschichte dem letzten Freund, der ihm geblieben war, ersparen.
Nun entfernte er sich von der Barre auf der Viehbrücke. Noch einmal schaute er zu der Scheune hin. Der größere Junge zupfte den anderen am T-Shirt, sie sahen sich an. Er kannte die beiden. Sie gehörten zu den dreien, mit denen Schorsch häufig geschwatzt hatte. Sicher nette Jungs. Er hätte gerne erfahren, was sie über Schorsch wussten, welche Geschichten er ihnen erzählt hatte.
Er blickte in die Wiese hinaus und fragte sich, ob ein ehemaliger Bankierssohn nicht früher oder später aufgeflogen wäre, auch als landstreichender katzenliebender Halbgrieche. Dann trat er auf den Weg und blickte seinen Freund an, der keinen Wank machte. Der Gesichtsausdruck des Freundes war gefasst, aber seine Gestalt wirkte wie ein Heißluftballon, dem die Luft ausging. Der Freund war immer der Beständigere von ihnen gewesen, doch jetzt schien er geradezu auseinanderzufallen. Seine Hose war etwas schmutzig, er merkte es nicht. Sein Bart sollte gestutzt werden, er hatte es vergessen. Seine Brille war schmierig, er sah es nicht mehr. Er schien jetzt nur die Scheune zu sehen, alles andere hatte er ausgeblendet. Sein Blick war schon fast starr, die Hände steckten tief in den Manteltaschen. Er atmete langsam.
Es bricht aus mir heraus, dachte er und ballte die Hände in den Manteltaschen zu Fäusten. Das darf es nicht, es muss drinbleiben. Ruhig atmen, sonst fällt alles in mir auseinander. Er kratzte sich am Bart und versuchte, die Scheune zu betrachten, als ob er sie zum ersten Mal sähe. Das von der Sonne dunkel gebeizte Holz, die verrutschten Ziegel, der rostige Kreiselheuer, der unter dem Vordach stand. Details, dachte er. Bleib bei den Details, alter Knabe, sie können dir nicht wehtun. Doch es gelang ihm nicht. Er musste wieder an den Morgen in der Gerichtsmedizin denken, an diesen Forensiker, der ständig die Zähne bleckte und zwischen den Sätzen Rotz in der Nase hochzog. Katzenfutter, hatte der Forensiker gesagt, ja, der Herr habe richtig gehört, Katzenfutter habe der Tote, äh, Verstorbene gegessen und auch sonst alles Mögliche und dies offenbar jahrelang. Dann hatte der Forensiker laut geschnieft und gefragt, ob er das gewusst habe, als bester Freund? Nein, hatte er geantwortet, der Tote sei tatsächlich sein bester Freund gewesen, aber das habe er natürlich nicht gewusst. Was heißt da natürlich, hatte der Forensiker erwidert, es gebe Leute, die täten sich das in die Spaghettisoße und machten keinen Hehl daraus. Wieder lautes Schniefen. Und dennoch,
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