Caras Gabe
Arm.
Ich schüttelte sie ab. „Was will er dann?“, fragte ich wütend. „Wie soll das gehen?“
Arun atmete tief ein. „Du reichst ihm deine Hand. Mundap wird zu den Geistern singen und sie bitten, dass sie die Erinnerung, die du für ihn ausgewählt hast, sichtbar machen. Er sieht sie sich an und lernt davon. Das ist sein Lohn. Er kann von den Erinnerungen anderer Menschen lernen und gibt sie weiter an den nächsten Schamanen. Vielleicht erfährt er etwas, das eines Tages einem anderen seines Volkes helfen wird.“
Ich betrachtete Mundap skeptisch. „Du willst behaupten, dass in diesem Schamanen die fremden Erinnerungen von Generationen schlummern?“ Auf mich machte er den Eindruck, als sei er eher einfältig als weise, doch Arun nickte so ernst, dass ich bereit war, meine Meinung zu Mundap zu überdenken.
Ich seufzte. „Na, gut. Und sonst wird er nichts sehen … oder nehmen?“
„Nein.“ Arun legte beruhigend seine Hand auf meine und diesmal ließ ich ihn gewähren. „Du teilst deine Erinnerung mit ihm. Er wird sie dir nicht nehmen.“
Ich nickte und Arun übersetzte meinen Entschluss. Mundap lächelte. Mit einem letzten Seufzer beugte ich mich zu ihm und reichte ihm meine Hand. Seine Finger fühlten sich rau an, doch sie waren warm und er hielt meine Hand so vorsichtig wie einen jungen Vogel. Ich sah in seine Augen. Plötzlich überkam mich Schwindel. Ich musste heftig blinzeln, um nicht gänzlich die Orientierung zu verlieren.
Mundap hatte einen leisen Singsang angestimmt und wiegte sich im Rhythmus hin und her. Bis zu diesem Moment war ich nicht sicher gewesen, welche Erinnerung ich mit ihm teilen würde, doch auf einmal war alles scharf umrissen.
Ich sah die regenfeuchten Steine vor mir, die braunen Tannennadeln auf dem Boden und den Efeu, der an dem Fels emporkletterte. Die Dörfler dachten, die Quelle zwischen den Steinen sei schon lange versiegt, doch ich wusste es besser. Tief unten in der Schwärze, tiefer, als jedes Seil reichte, schlummerte das Wasser. Mein Vater hatte mir erklärt, dass dies ein Wunschbrunnen sei, ich bräuchte nur eine goldene Münze in seine Tiefen werfen und mir dafür etwas wünschen. Es würde auf jeden Fall in Erfüllung gehen.
Eine Woche nach seinem Tod hatte ich meine Mutter bestohlen und war zu dem Brunnen gerannt. Woher sie das Gold hatte, war mir bis heute ein Rätsel geblieben, doch damals hatte ich keinen Gedanken daran verschwendet. Mein Wunsch war klar gewesen.
Ich weiß noch, wie ich dagestanden hatte und auf das Aufschlagen der Goldmünze lauschte. Doch mein Herz hatte so laut gepocht, dass ich es nicht hörte. Manchmal glaube ich, sie fällt noch immer durch die Schwärze.
Der Schamane ließ meine Hand los und der Verlust des Kontaktes schleuderte mich unsanft zurück in die Gegenwart. Lautlos sank meine Hand auf meinen Schoß. Am Rande meines Bewusstseins nahm ich wahr, dass ich zitterte, doch ich konnte nicht sagen warum. Ich fühlte mich so fern, mir selbst fern.
Arun legte einen Arm um mich und ich sank gegen ihn, mein Körper so leblos und schwer wie Blei.
Dann plötzlich, Schlag auf Schlag, prasselten die Gefühle und Bilder von damals auf mich ein, wie faustgroßer Hagel. Ich sprach, bevor ich mir dessen bewusst war.
„Zu der Zeit hatte ich noch nicht verstanden, warum sie ihn verbrannten, und eine Weile lang glaubte ich, es sei meine Schuld gewesen. Ich hatte solche Angst, dass sie mich oder meine Mutter als nächstes bestrafen würden. Die Menschen mieden uns wie eine Krankheit. Nur wenige Tage nach der Verbrennung jagten sie mich über den Dorfplatz und bewarfen mich mit Steinen und Dreck. Tränenüberströmt und mit einer Platzwunde am Kopf floh ich in unser Haus und erzählte meiner Mutter, was geschehen war. Sie sah mich nur an und sagte kein Wort, ließ nicht zu, dass ich sie umarmte. Sie schnitt sich ihr Haar ab, sperrte mich in mein Zimmer und ging zu den Priestern. In dieser Nacht schlief ich nicht. Ich dachte, die Priester würden sie verbrennen, und ich fand dennoch nicht den Mut, das Haus zu verlassen, um nach ihr zu suchen. Als sie am nächsten Morgen wiederkam, war ihr Kleid zerrissen, ihre Wangen gerötet und ihre Augen leuchteten wie im Fieber. Von diesem Tag an hat sie nur noch von der Glorie der Lichtträger gesprochen.“
Ich ballte meine Hände zu Fäusten und biss auf meiner Unterlippe, bis ich Blut schmeckte. Es war eine bewusste Anstrengung, nicht noch mehr zu erzählen.
Währenddessen kramte Mundap
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