Caravan
Vordersitzen hängt ein Vorhang aus einem alten Bettlaken. Er ist nur halb zugezogen, und Andrij sieht, dass hinten
alle Sitze rausgenommen sind bis auf vier, zwischen denen ein behelfsmäßiger Tisch steht. In einer Ecke ist ein kleiner Schrank
mit einem Gaskocher darauf und ein paar Pappkartons, in denen Kleider, Lebensmittel und Töpfe durcheinanderfliegen. Den Rest
der Fläche nimmt eine breite Matratze ein, mit zerwühlten graubraunen Laken.
»Hast du Bus selbst umgebaut?«
»Aye. War nicht schwer.«
»Würde ich auch gern machen. Alten Bus kaufen. Umbauen. Um die Welt fahren.«
Würde Irina auf so eine Reise mitkommen, fragt er sich. Und Hund? Hund liegt hinten auf der Matratze und schnarcht und furzt
so energisch wie immer, und Rocks Hündin Maryjane liegt eingerollt neben ihm und schnauft und seufzt etwas dezenter als er.
»Weiß nicht, ob Alice es um die Welt schaffen würde.«
»Alice ist deine Freundin?«
»Nee, Alice ist der Bus. Meine Freundin heißt Thunder.«
Donner? Hm. Interessanter Name für eine Frau. Ziemlich sexy.
»Ist sie auch Bergmann?«
»Nee. Bei uns gibt es keine Frauen im Bergbau. Aber wenn sie es machen würde, wäre sie sicher spitze.«
»Rock, wenn du nicht Bergmann bist und nicht Ingenieur, was arbeitest du dann?«
»Ich?« Rock nimmt noch einen langen Zug von seiner Zigarette, dann rückt er sich die kleine runde Brille zurecht, |332| die zur Seite gerutscht ist. »Ich schätze, du kannst sagen, ich bin so ’ne Art Krieger.«
»Art Krieger? Ist das ein Job?«
»Nee, kein Job. Mehr so ’ne Art Berufung. Aye, ein Krieger der Erde. Wir verteidigen die Erde vor den bösen Fängen der großen,
gierigen Unternehmen.« Er fängt zu kichern an.
»Hm. Das ist interessant.«
»Aye. Weißt du, da ist so ein uralter Kreis von Findlingen oben in den Bergen. Die Neun Ladys. Dreitausend Jahre alt. Und
irgendein gieriges Arschloch will genau daneben einen Steinbruch aufmachen. Und wir Krieger, wir haben ein Lager errichtet,
oben in den Bäumen. Sie können keinen Steinbruch sprengen, ohne vorher die Bäume zu fällen. Und die Bäume können sie nicht
fällen, weil wir draufsitzen«, er kichert wieder, »weil wir unser altes britisches Erbe vor den Krakenarmen der Globalisierung
retten, in Jimmys unsterblichen Worten.«
Dieser Jimmy scheint ein interessanter Kerl zu sein.
»Aber warum wollen sie Steinbruch an einer historischen Stelle machen?«
»Gier, Kumpel. Reine Gier. Alles für den Export. Der Bauboom in Amerika. Dreck zu Gold machen. Jimmy nennt die Typen den Feind
im Bett.« Rock hat sich richtig ereifert und starrt wild in die Gegend.
»In der Ukraine war es dasselbe«, sagt Andrij tröstend. »Alles verkauft. Nichts übrig.« »War es nicht in der Ukraine, wo sie
diese Demonstrationen hatten? Irgendwas wegen den Wahlen? Orangene Plakate und so’n Zeug?« Jetzt redet er wieder ruhiger,
fast verträumt.
»Das war auch Gier. Wenige Geschäftsleute haben ganzes Volksvermögen in Hände gekriegt. Jetzt wollen sie an Westen verkaufen.«
|333| »Andrij, du redest vollkommenen Quatsch!«
Irina hat sich kerzengerade aufgesetzt und reibt sich die Augen.
»Ich dachte, du schläfst.«
»Wie kann ich schlafen, wenn du solchen Quatsch redest?«
»Das ist kein Quatsch, Irina. Du weißt nichts vom Leben bei uns im Osten.«
Sie sprechen Ukrainisch, mit erhobenen Stimmen. Rock sieht ihnen mit einem wohlwollenden Lächeln zu, tief über das Lenkrad
gebeugt. Der Bus ist unglaublich langsam geworden, sie fahren jetzt zehn Stundenkilometer, höchstens.
»Ich weiß sehr wohl, was gut für die Ukraine ist, Andrij«, sie zeigt mit dem Finger auf ihn, »und die russische Vorherrschaft
gehört nicht dazu.«
Was ist bloß in sie gefahren? Okay, vielleicht ist der Zeitpunkt gekommen, wo er mit der Umerziehung anfangen muss.
»Es geht nicht um Beherrschung, sondern um wirtschaftliche Integration, Irina. Integrierte Produktion, ein gemeinsamer Markt.«
Er spricht langsam und deutlich. Ist sie – ein junges Mädchen mit dem Kopf voll Frauensachen – überhaupt in der Lage, solche
Konzepte zu verstehen? »Die ukrainische und die russische Wirtschaft sind eins gewesen. Ohne Russland bricht die ukrainische
Industrie zusammen.«
»Andrij, Russland hat die Ukraine unter den Zaren ausgeraubt, dann während des Kommunismus und jetzt unter dem Mäntelchen
der wirtschaftlichen Integration. Es ist nur ein anderer Name für die gleiche Sache. Mit Juschtschenko
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