Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Caravan

Titel: Caravan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
Vom Netzwerk:
Steuer tut Andrij sein Bestes, sich auf die Straße zu konzentrieren. Mit der Lenkung hatte er jedenfalls recht – der alte
     Bus ist noch schlimmer als der Landrover. Auch die Schaltung ist ein wahres Teufelswerk. Glücklicherweise gibt es nicht viel
     zu lenken oder zu schalten, als sie erst mal auf der Straße sind; es ist überhaupt nicht viel zu tun, außer dazusitzen und
     zuzusehen, wie die Kilometer langsam vorbeikriechen.
    Der versprochene Regen hat nicht eingesetzt, und der Himmel ist immer noch schwer und heiß. Inzwischen ist es früher Abend,
     und der Verkehr wird dichter. Nicht dass es für sie einen Unterschied macht – der Bus ist bei weitem das langsamste Fahrzeug
     auf der Straße. Komisch, denkt er, Sheffield scheint einfach nicht näher kommen zu wollen. Sie hätten doch längst ein Schild
     sehen müssen. Links ist ein Schild nach Leeds. Ist das nicht irgendwo im Norden? Dann kommt ein Schild nach York. Hm. Wenigstens
     sind sie in der richtigen Grafschaft. Aber ist Sheffield nicht in Süd-Yorkshire? Wo ist es bloß hinverschwunden?
    Irina wacht auf und berührt seine Hand.
    |337| »Sind wir bald da?«
    »Ich glaube schon.«
    »Erzähl mir mehr von Sheffield.«
    »Also, weißt du, Sheffield war die erste Stadt in England, die zur sozialistischen Republik ausgerufen wurde, und der Anführer,
     Vlunki, ist auf der ganzen Welt bekannt für seine progressiven Grundsätze.«
    »Was sind das für progressive Grundsätze?«, fragt sie argwöhnisch. »Werden die mir gefallen?«
    »Die Bougainvilleen werden dir auf jeden Fall gefallen.«
    Er beugt sich zu ihr und küsst sie, wobei er das Steuer mit dem rechten Knie festhält.
     
    Auch wenn Andrij sehr attraktiv und männlich ist, wünsche ich mir manchmal, er wäre nicht gar so primitiv. Wie konnte ich
     mich nur in einen Mann verlieben, der der Sowjet-Ära nachhängt? Ich hoffe, dass er seine reaktionären Vorstellungen hier im
     Westen bald ablegt, aber langsam habe ich meine Zweifel, was dieses Sheffield angeht. Muss ich mir etwa eine Art kommunistisches
     Arbeiterparadies vorstellen wie Jalta oder Sotschi, überall Sanatorien und Gemeinschaftsschlammbäder? Wir werden sehen.
    Rock wachte erst nach ein paar Stunden wieder auf. Und dann staunte er, wie weit wir gekommen waren.
    »Du hättest auf der A57 abfahren müssen. Wir sind viel zu weit im Norden. Wir müssen umkehren und wieder zurück.«
    »Davon hast du nichts gesagt«, sagte Andrij missmutig. Das ist noch einer seiner Fehler, wie ich festgestellt hatte. Er neigt
     zu schlechter Laune. Ich schätze, es war ihm wirklich wichtig, bald nach Sheffield zu kommen.
    Rock sah bedauernd drein.
    »Das war dieser verdammte Afghane«, murmelte er und |338| starrte nach hinten in den Bus, aber ich verstehe wirklich nicht, wie er Hund die Schuld daran geben konnte.
    Jedenfalls wendeten wir, und ab ging es in die andere Richtung. Rock saß wieder am Steuer. Das Licht verblasste am Himmel.
     Ab und zu donnerte ein Auto oder ein Lastwagen an uns vorbei nach Süden, mit in der Dämmerung grell aufstrahlenden Scheinwerfern.
     So fuhren wir etwa eine Stunde lang, im Schneckentempo, Rock hatte beide Hände am Steuer, den Blick starr nach vorn gerichtet,
     und sprach kein Wort. Der Verkehr auf den Straßen hatte wieder abgenommen. Ein paarmal wurden wir von einem Auto überholt,
     dessen Rücklichter in der Dunkelheit vor uns kleiner wurden, bis nur noch zwei Stecknadelköpfe zu sehen waren, und dann nichts
     mehr.
    Plötzlich fuhr Rock von der Straße auf einen Rastplatz und verkündete: »Ich glaube nicht, dass wir es heute Nacht noch schaffen,
     Leute. Wir hauen uns aufs Ohr und fahren morgen weiter.«
    Andrij sagte nichts, aber ich wusste, was er dachte. Ich sah den gewittrigen Ausdruck in seinem Gesicht.
    »Ihr beide könnt das Bett haben – ich schlaf hier vorn auf den Sitzen.
    Maryjane! Komm her!« Maryjane sprang nach vorn, und Hund folgte ihr. Rock klappte die Sitzbank um. Dann zog er das T-Shirt und die Jeans aus, warf sie in den Karton mit dem Geschirr und krabbelte mit seinem kleinen blassen Körper in einen khakifarbenen
     Schlafsack, wie eine Larve, die in ihren Kokon zurückschlüpfte.
    Andrij stieg aus und half mir aus dem Bus. Der Rastplatz war durch eine Hecke von der Straße abgeschirmt. Außer uns stand
     noch ein Wohnwagen da, doch die Rollläden waren unten. Auf einem Schild stand: TEE.   SNACKS.   Die Nacht war warm und feucht, der Himmel bedeckt, ohne |339| Sterne. Ich atmete tief ein,

Weitere Kostenlose Bücher