Caravan
können wir wenigstens
eine eigene unabhängige Wirtschaft aufbauen.«
Sie hat einen unangenehm predigenden Ton angeschlagen, der bei einer Frau überhaupt nicht attraktiv ist. Sie sollte |334| sich lieber mit Frauenthemen beschäftigen, statt ihr hübsches Näschen in die Politik zu stecken.
»Irina, die Leute, die die Ukraine ausgeraubt haben, waren hauptsächlich unsere eigenen Landsleute. Krawtschuk, Kutschma,
deine Tymoschenko – alles Milliardäre. Wusstest du das, als sie die Minen im Donbass geschlossen haben, kamen Hilfsgelder
aus Europa für die Bergleute, um neue Industrien anstelle der alten aufzubauen. Und was ist passiert? Das ganze Geld ist in
die Taschen der Beamten geflossen. Neue ukrainische Beamte, keine Russen. Mobilfon-Männer. Die Minen wurden verkauft, und
als sie die Maschinen rausgeholt hatten, wurden sie geschlossen. Keine neuen Industrien. Vor lauter Verzweiflung sind die
Bergleute auf eigene Faust in die Gruben runter und haben die Kohle mit der Hand abgebaut. Kannst du dir die Zustände vorstellen?
Kannst du dir das auch nur einen Moment lang vorstellen?«
»Du brauchst nicht so zu schreien.«
»Tut mir leid.« Sie hat recht. Schreien macht ihn auch nicht wieder lebendig. »In einer dieser Minen ist mein Vater gestorben.«
»Oh, Andrij!« Sie legt die Hand auf den Mund. »Oh, warum hast du mir das nicht früher erzählt? Es tut mir so leid. Es tut
mir schrecklich leid.«
Jetzt hat sie Tränen in den Augen und sieht so traurig aus, dass er sie in den Arm nehmen und trösten muss. Das nächste Mal
muss er bei der Umerziehung sanfter vorgehen.
»Es ist ja nicht deine Schuld, Irina. Bitte, wein doch nicht. Du hast ihn ja nicht umgebracht.«
Seufzend vergräbt sie das Gesicht an seiner Brust. Er streichelt ihr über das Haar, schwarz und glänzend wie ein Rabenflügel.
Moment mal – was passiert hier? Der Bus ist so langsam geworden, dass er fast stehen bleibt, und jetzt rollt er quer |335| über die Straße. Rock, der über dem Steuer hängt, seufzt leise und kichert immer noch vor sich hin. Hektisch beugt sich Andrij
hinüber, greift ins Steuer und versucht, den Bus wieder auf Kurs zu bringen. Gleichzeitig versetzt er Rock einen Stoß mit
dem Ellbogen. Rock schüttelt den Kopf, blinzelt, lächelt, rückt die Brille zurecht, die ihm fast von der Nase gerutscht ist,
dann übernimmt er wieder das Steuer.
»Nur kein Stress, Kumpel. Zeit für ein Nickerchen.«
An der nächsten Raststätte fährt er raus, parkt den Bus, legt sich über das Steuer und ist nach ein paar Sekunden fest eingeschlafen.
Irina macht sich auf die Suche nach einem Waschraum. Andrij bleibt im Bus sitzen, lauscht dem Schnarchen von Rock und den
Hunden und spürt, wie seine Ungeduld sich staut wie Dampf in einem Zylinder. Ob sie jemals nach Sheffield kommen?
»Was ist los mit ihm?«, flüstert Irina, als sie neben ihn auf den Sitz klettert. Sie sieht frisch aus und entspannt.
»Müde vom Fahren. Bei dem uralten Bus, weißt du. Keine Servolenkung.«
Er denkt sich seinen Teil, was Rocks Zigarette angeht, aber er will Irina nicht beunruhigen.
Nach einer halben Stunde wacht Rock auf, kratzt sich am Kopf, dann schüttelt er sich wie ein Hund und zieht los auf der Suche
nach etwas zu essen. Als er aus dem Bus steigt, bemerkt Andrij erst, wie klein er ist – wie er so in seiner weiten, erdfarbenen
Kluft auf die Raststätte zuhüpft, sieht er aus wie ein lockenhaariger Elf. Ein paar Minuten später kommt er mit einer Flasche
Wasser, einer Orange, einem Weißbrot und vier Schokoladenriegeln zurück. Andrij greift in die Tasche, um ihm Geld zu geben,
aber Rock schüttelt den Kopf.
»Kein Stress. Ich hab das Zeug befreit.«
Bedächtig schält er die Orange, dann teilt er die Stücke gerecht zwischen ihnen drei auf. Mit der Schokolade macht er |336| das Gleiche. Dann zählt er die Brotscheiben ab. Er scheint es kein bisschen eilig zu haben. Hinter der kleinen runden Brille
sind seine Augen rot geworden.
»Ich kann fahren, wenn du willst«, sagte Andrij.
»Kein Stress«, sagt Rock.
Als sie eine halbe Stunde später mit dem Essen fertig sind, füllt er mit einem Kanister aus dem Gepäckfach den Tank auf, reicht
Andrij die Autoschlüssel und klettert nach hinten.
»Rückt mal ’n Stück«, sagt er und streckt sich zwischen Hund und Maryjane aus. Bald schnarchen die drei im Chor mit dem Brummen
des Motors. Auch Irina auf dem Beifahrersitz scheint eingeschlafen zu sein.
Am
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