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Caravan

Titel: Caravan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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beschleunigt – Höchstgeschwindigkeit vierzig Stundenkilometer   –, zittert und bebt die ganze Karosserie. Mit so einer Rostlaube würde man selbst in der Ukraine einen Priester rufen und
     um ein, zwei Segenssprüche bitten, bevor man eine längere Reise unternimmt.
    Noch etwas fällt ihm auf – der Geruch aus dem Motor. Eigentlich riecht es sogar ganz gut. Es erinnert ihn an – merkwürdig
     – an das kleine Restaurant Ecke Rebetow. Bratkartoffeln. Irina setzt sich auf und schnuppert.
    »Fish and chips?«, fragt sie.
    »Beinahe«, sagt Rock. »Die Kiste läuft mit altem Pommes-Öl – hab sie selber umgerüstet. Verbrennt die überschüssigen Nebenprodukte
     der Konsumgesellschaft. Nicht ganz legal, weil keine Steuer drauf ist. Aber, wie Jimmy Binbag sagt, die Pommes des Zorns sind
     weiser als der Essig der Belehrung.«
    Sie sitzt neben ihm auf dem Vordersitz und klammert sich am Rand der Sitzbank fest. Andrij fängt ihren Blick auf.
    |329| »Meinst du, alle Angliski-Fahrer sind verrückt?«, flüstert sie auf Ukrainisch.
    »Scheint so«, flüstert er zurück. »Wenigstens ist der hier kein Raser.«
    »Und wo kommt ihr her?« Rock macht es sich bei dreißig Stundenkilometern gemütlich. Er stützt beide Unterarme aufs Lenkrad
     und dreht sich eine Zigarette.
    »Ukraine. Kennst du?«
    »Aye.« Er leckt das Zigarettenpapier an. »Wir hatten ein paar Ukrainer in Barnsley. Bergleute.«
    »Mein Vater war Bergmann«, sagt Andrij.
    »Ha«, sagt Rock. »Meiner auch. Bevor er gestorben ist.«
    »Ist er bei Unglück gestorben?«
    »Nee. Pneumokoniose. Staublunge.«
    »Meiner ist bei Unglück gestorben. Stollen eingestürzt.«
    »Scheiß-Grubenunglücke. Tragische Sache. Tut mir leid, Kumpel.«
    »Bist du immer noch Bergmann?«
    »Nee. Haben alle Gruben im Umkreis geschlossen. Außerdem hat mein Dad gesagt, ich wär eh zu schwach. Ich soll lieber ’ne Ausbildung
     kriegen. Was soll man in Barnsley mit ’ner Ausbildung, hab ich gefragt. Na ja, dann bin ich doch aufs College und hab meinen
     Ingenieur gemacht. Aber dann hab ich mir gesagt, Technik, ist das nicht Teil vom Problem? Und da hab ich mich dann für das
     hier entschieden.«
    Immer noch auf das Lenkrad gestützt, reißt er ein Streichholz an und hält es an die Zigarette. Schwaden von süßlichem Rauch
     hüllen sie ein.
    »Und du, bist du Bergmann?«
    »Früher. Vor Vaters Unfall. Jetzt kann ich nicht mehr runter. Kann ich nicht unter Tage arbeiten. Deswegen habe ich keine
     Arbeit. Ich bin nach England gekommen für Erdbeerpflücken.«
    |330| »Aye, das ist schon Scheiße. Wie Jimmy Binbag sagt, wenn die Klospülung des Kapitalismus gezogen wird, kriegen die, die unten
     sind, die Scheiße ab.«
    Er nimmt noch einen tiefen Zug und hält den Rauch in den Lungen. Dann bietet er Andrij die Zigarette an. Andrij schüttelt
     den Kopf.
    »Mein Vater sagt, wenn Bergmann unter Tage ist, kann Tod vorbeikommen. Wenn Bergmann raucht, ist Tod persönlich eingeladen.«
    »Jesses! Das kann’s einem verleiden! Aber ich dachte, sie hätten die ganzen Gruben in der Ukraine dicht gemacht?«
    »Viele sind zu. Aber wir haben wieder aufgemacht.«
    »Ihr habt die Gruben wieder aufgemacht?«
    »Wir Bergleute. Mit unseren Händen.«
    »Ist das nicht gefährlich?«
    »Natürlich. Und illegal. Arbeit in Flözen, ein Meter hoch. Siebenunddreißig Grad heiß. Hundert Prozent Luftfeuchtigkeit. Kein
ventilazija
. Kein Sicherheit-
vychod.
Keine Maschinen. Nur mit Hacke in der Hand gehen wir runter, Kohle abbauen. Wir verkaufen sie. Heute gibt keine andere Arbeit,
     weißt du. Wir müssen leben.«
    »Heilige Scheiße.«
    Der Schwarm Bienen im Motor dröhnt vor sich hin, beruhigend und zielstrebig. Ein paar Regentropfen klatschen gegen die Windschutzscheibe.
     Irina seufzt und verlagert das Gesicht, ihr Kopf liegt schwer auf seiner linken Schulter. Sie schläft. Sie hat nichts von
     ihrem Gespräch mitbekommen. Eines Tages wird er ihr die ganze Geschichte erzählen: von dem strahlenden Frühlingsmorgen, von
     dem Loch im Boden, wie eine klaffende Wunde, wo sie in die Erde hinuntergestiegen sind, die erstickende Dunkelheit, die sie
     verschluckte. Das erste Zittern des Bodens. Dann das langgezogene Brüllen der Explosion. Das Beben. Die Brocken, die |331| von der Decke fielen. Die Stimmen, die Rufe, die Schreie. Dann die Stille. Schwarzer Staub. Er hebt den Arm, legt ihn um sie
     und drückt ihren Kopf an seine Brust. Ihr Haar fließt über ihn wie schwarze Seidenbänder.
    Hinter den

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