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Caravan

Titel: Caravan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Westen abgebogen sein. Die Straße, auf der sie sich
     jetzt befinden, ist kleiner und windet sich durch eine nichtssagende Landschaft, riesige Felder, mit ihm unbekannten Nutzpflanzen
     bebaut, und kleine Ansammlungen von roten Ziegelhäusern. Doch was Andrij vor allem auffällt, ist, dass schon so früh so viel
     Betrieb auf der Straße herrscht. PKWs, Transporter, Lastwagen, Menschen, die es eilig haben, zur Arbeit zu kommen. Ein großer
     schwarzer Geländewagen rast vorbei. Er sieht aus wie   … nein, bestimmt fahren Dutzende solcher Fahrzeuge auf diesen Straßen. Er sieht Irina an. Sie sitzt in der Mitte, und er spürt
     die Wärme ihrer linken Hand an seiner rechten. Ihre Augen sind geschlossen. Sie hat nichts gesehen.
    Auf einem langen geraden Stück werden sie von einem Minibus überholt, und er zählt ein Dutzend Männer, zusammengedrängt |342| auf den Sitzen, dunkelhäutige, schwarzhaarige Männer mit zerknitterten Frühmorgenmienen. Manche rauchen Zigaretten. Sie gleiten
     im Morgennebel an ihnen vorbei.
    »Was sind das für Männer?«, fragt er Rock.
    Rock zuckt die Schultern. »Einwanderer. Saisonarbeiter. Die Schlacken der Globalisierung, wie Jimmy Binbag sagt.«
    »Wer ist   …?«
    »Das ganze Land wird von Einwanderern am Laufen gehalten. Sie machen die Drecksarbeit.«
    »Wie wir.«
    »Aye. Wie ihr«, sagt Rock. »Habt ihr von dem Verkehrsunfall in Kent gehört? Ein Minivan voll mit Erdbeerpflückern. Sechs Tote.«
    »In Kent?« Irina setzt sich auf, mit großen Augen.
    »Arme ausgebeutete Schweine. Handlanger der gesichtslosen globalen Unternehmen. Aber nicht mit mir. Ich hab die Nase voll.
     Deshalb bin ich Krieger geworden.« Er schiebt die Brille hoch, die ihm auf die Nasenspitze gerutscht ist. »Schade, dass mein
     Dad mich nicht sehen kann. Und er meinte, ich wär zu schwach für die Grube.«
    »Aber du verteidigst Steine, keine Menschen«, sagt Andrij. »Wieso?«
    »Kohle, Steine, Erde – das ist unser Vermächtnis, oder nicht?«
    »Vermachtnis – was heißt das?«
    »Das, was wir von unseren Eltern kriegen. Dinge, die über Generationen weitergegeben werden.«
    »Wie Unterhosen«, flüstert Irina auf Ukrainisch.
    Wenn ich ein Krieger wäre, denkt Andrij, würde ich nicht irgendwelche blöden alten Steine verteidigen, sondern lebendige Menschen
     aus Fleisch und Blut. Auch im Donbass haben die Mobilfon-Männer die Macht an sich gerissen, und die |343| Menschen sind ersetzbar geworden, ihre kostbaren Leben werden einfach weggeworfen, durch vermeidbare Unfälle und Krankheiten,
     und ihr Elend wird nur vom Wodka gedämpft. Das ist die Zukunft, die sein Land ihm bietet – dass er als Mensch entbehrlich
     ist. Nein, das kann er nicht akzeptieren.
    »Woran denkst du?«, fragt Irina leise.
    »Ich denke daran, wie kostbar du bist, ukrainisches Mädchen.«
    In seinem Mund fühlen sich die Worte seltsam fest an, wie Zuckerwürfel, die sich nicht aufgelöst haben. Er ist es nicht gewohnt,
     einer Frau solche Sachen zu sagen.
    Es geht immer noch westwärts. Sie kommen durch eine hässliche, verkehrsverstopfte Stadt, dann auf eine große Fernstraße, und
     schließlich folgen sie einer schmalen Straße durch Felder, die grün und sanft geschwungen sind, doch nicht vergleichbar mit
     der leuchtenden Schönheit von Kent.
    »Hier sind überall Zechen gewesen«, sagt Rock. »Und beim Streik haben sie die Straßen dicht gemacht, damit die Streikposten
     aus Yorkshire nicht nach Nottinghamshire konnten. Räudiges Notts, haben wir gesagt. Das war ein Schlachtfeld. Mein Dad ist
     in Hucknall verhaftet worden. Aber das ist ja jetzt alles Geschichte.« Er seufzt. »Kein Müllbeutel in der Tonne der Geschichte,
     hat Jimmy immer gesagt.«
    »Wer ist   …?«
    »Da vorn ist die Autobahn«, sagt Rock. »Wenn wir auf der anderen Seite sind, sind wir bald da.«
    Ein paar Kilometer weiter, jenseits der Felder, gräbt sich eine riesige Straße in die Landschaft, noch größer als die Great
     North Road, Schlangen von PKWs und Lastwagen schieben sich langsam vorwärts, dicht gedrängt wie Perlen an einer Schnur.
    |344| Hinter der Autobahn wird die Straße noch schmaler, und es geht bergauf. Hier sind die Häuser nicht mehr aus Ziegel, sondern
     aus grauem Feldstein, und die Dörfer sind kleiner und weiter voneinander entfernt. Je höher sie kommen, desto wilder wird
     die heidebewachsene Landschaft; dunkle Felsmassive tauchen auf, Wäldchen mit Weißbirken und Nadelbäumen, weite, vom Wind gepeitschte
     Hügel.

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