Caravan
Scheiben.
Song Ying, für die anderen das chinesische Mädchen Nummer eins, kommt aus der Provinz Guangdong im Süden Chinas. Ihr Vater
arbeitet in einer neuen Bank in einer großen Industriestadt und ist dort ein angesehener Mann. Ihre Mutter ist Lehrerin. Song
Ying ist ihr einziges Kind, und ihre Eltern verhätscheln sie und scheuen keine Ausgabe für sie, so |116| dass sie mit hohen Erwartungen an ihre Zukunft groß wird. Sie ist ein kluges Mädchen, und ihre Eltern haben ihr Privatstunden
bezahlt. Mit neunzehn hat sie die Aufnahmeprüfung der renommierten Beijing University Business School bestanden. Ihre Eltern
haben genug Geld für die Studiengebühren zur Seite gelegt. Im Herbst fängt sie mit dem Studium an. So war es jedenfalls geplant.
Vor sechzehn Monaten wurde ihre Mutter schwanger. Die Behörden hatten das Ein-Kind-Gesetz längst nicht mehr so scharf verfolgt,
und ihre Mutter dachte, sie würden sie in Ruhe lassen, doch dann gab es wieder einmal einen reaktionären Umschwung, und die
Gesetze wurden wieder strenger ausgelegt. Ihre Mutter wird vor den Provinzrat beordert, wo man sie vor die Wahl stellt, abzutreiben
oder eine hohe Steuer zu zahlen. Song Yings Mutter nimmt etwas von ihren Ersparnissen, um eine heimliche Ultraschalluntersuchung
durchführen zu lassen. Die Untersuchung ergibt, dass sie einen Jungen erwartet. Song Yings Eltern diskutieren die Entscheidung,
vor der sie stehen, bis spät in die Nacht. Ihr Vater drängt ihre Mutter zur Abtreibung, aber ihre Mutter weint so sehr, dass
er am Ende einlenkt. Sie bekommen das Kind, und sie zahlen die Steuer.
Die Steuer frisst das ganze Geld auf, das sie für Song Yings Ausbildung gespart haben, und noch mehr, sie müssen Schulden
machen. Der Junge ist wunderschön. Er wird von allen Familienmitgliedern verwöhnt und wird schnell dick. Song Yings Mutter
ist glücklich und schenkt Song Ying kaum noch Aufmerksamkeit, außer um zu ihr zu sagen: »Schau dir an, was für einen wunderschönen
Bruder du hast. Reicht dir das nicht?« Song Yings Vater beantragt eine Beförderung, um die Steuer zahlen zu können, und arbeitet
zusätzlich abends in einem Restaurant. »Keine Sorge«, beruhigt er seine Tochter, »ich besorge dir eine gute Stelle bei der
Bank, da |117| brauchst du keinen Universitätsabschluss.« Song Ying weint nachts in ihr Kissen, aber keiner hört es.
Dann hört Song Ying von einem College in England, wo sich Studenten aus Übersee gegen eine bescheidene Gebühr einschreiben
können, um ein Studentenvisum zu erhalten, ohne die Kurse besuchen zu müssen. Mit einem Studentenvisum könnte sie zum Studieren
nach England gehen und nebenher Teilzeit arbeiten. Keiner wird kontrollieren, wie viele Stunden sie arbeitet. Solange sie
die Gebühren zahlt, bescheinigt ihr das College, dass sie alle Kurse besucht. Man würde ihr sogar helfen, einen Job zu finden.
Sie kann so viele Stunden arbeiten, wie sie will, und der Wechselkurs ist so günstig, dass sie, selbst nach Abzug der Kosten
für das Flugticket und die Studiengebühren, immer noch genug hat, um ihr erstes Jahr an der Universität Peking zu finanzieren
– und sie rechnet alles sehr sorgfältig durch, denn Fehler kann sie sich nicht leisten. Also bewirbt sie sich bei dem College,
wird angenommen und unterschreibt eine Vereinbarung, dass sie das Flugticket und die Gebühren von dem Geld bezahlen wird,
das sie in England verdient.
Das College ist nicht so, wie sie erwartet hat – es sind nur ein paar schlichte Räume über einem Wettbüro auf einer heruntergekommenen
Straße, kilometerweit vom Zentrum Londons entfernt. Es gibt lediglich vier Unterrichtsräume. Die meisten Studenten sind, wie
sie, nicht wegen des Studiums gekommen. Von ihrem Job in einem vielbesuchten Restaurant ist sie oft zu erschöpft, um sich
in den wenigen Englischstunden, die sie besucht, zu konzentrieren (neben den anderen Aktivitäten finden im College tatsächlich
ein paar echte Kurse statt). Dann lernt sie Soo Lai Bee im College kennen, eine Chinesin aus Malaysia, die sich für den gleichen
Sprachkurs eingeschrieben hat. Für Song Ying, die ohne Brüder und Schwestern in der übertrieben fürsorglichen Umgebung |118| ihres Elternhauses aufgewachsen ist, ist die Gesellschaft eines Mädchens in ihrem Alter herrlich. Sie sprechen dieselbe Sprache,
und sie haben so viel zu reden. Soo Lai Bee versteht Song Yings Sorgen, und sie hat selbst ein paar Probleme, von
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