Caravan
Arm und zieht ihn aus dem Weg. Die Berührung durchzuckt ihn wie Maschinengewehrfeuer. Inzwischen stöckelt
die Fremde noch schneller davon. Der Blick in ihren Augen – er war schlimmer als Hass. Sie hat |254| einfach durch ihn hindurchgesehen. Hat ihn überhaupt nicht wahrgenommen. Seine Kleider – sein bestes Hemd ist schmuddelig
und verwaschen, die braune Hose, die er sich extra für die Reise gekauft hat, eine ukrainische Hose aus billigem Material,
ist jetzt schon ausgebeult, und dann der billige Kunstledergürtel und die Kunstlederschuhe, deren Sohle sich schon abzulösen
beginnt – seine Kleider machen ihn unsichtbar.
»Alle sind so schick. Ich komme mir vor wie ein Bauerntrampel«, sagt Irina, als könnte sie seine Gedanken lesen. Dieses Mädchen.
Na gut, ihre Jeans ist abgetragen und voller Erdbeerflecken, aber sie betont ihre hübschen Kurven, und ihre Haare sind glänzend
wie Rabenflügel, und mit ihren schönen Zähnen und Grübchen lächelt sie die ganze Welt an.
»Sag das nicht. Du siehst …« Er will die Arme um sie legen. »… du siehst ganz normal aus.«
Soll er die Arme um sie legen? Lieber nicht, sonst kreischt sie wieder: »Lass mich in Ruhe!« Und so gehen sie weiter, schlendern
ziellos durch die Straßen und sehen sich mit weit offenen Augen alles an, was es zu sehen gibt. Hund läuft voraus und belästigt
die Leute, indem er ihnen zwischen den Beinen durchschlüpft. Doch, dieses London – die Stadt ist nicht ohne.
Aber warum – das ist es, was er nicht verstehen kann – warum herrscht hier so viel Überfluss, und zu Hause ist so viel Mangel?
Die Ukrainer arbeiten genauso hart wie alle anderen auch – noch härter, denn abends, nach der Arbeit, müssen sie Gemüse ziehen,
das Auto reparieren, Holz hacken. In der Ukraine kann man sich ein Leben lang abrackern, und trotzdem hat man am Ende nichts.
Ein Leben lang rackern, und am Ende liegt man tot unter der Erde, in einem eingestürzten Stollen. Armer Vater.
|255| »Schau mal!«
Irina zeigt auf eine kleine dunkelhäutige Frau mit einem bunten Kopftuch, wie es die Frauen in den früheren Ostrepubliken
tragen. Sie hat ein kleines Kind auf dem Arm, und sie geht auf die Passanten zu und bettelt. Das Kind ist schrecklich missgebildet,
es hat eine Hasenscharte und ein Auge, das nur halb geöffnet ist.
»Hast du Geld, Andrij?«
Er wühlt in seinen Taschen, auch wenn die Frau ihn irgendwie nervt, weil er doch selber nicht viel hat, und das bisschen würde
er lieber für … na ja, jedenfalls nicht für sie ausgeben. Aber er hat gesehen, wie Irina das Kind anschaut.
»Bitte, nehmen Sie«, sagt er auf Ukrainisch und gibt ihr zwei Pfundmünzen. Die Frau sieht erst die Münzen an, dann Andrij
und Irina, dann schüttelt sie den Kopf.
»Behaltet euer Geld«, sagt sie in gebrochenem Russisch. »Ich habe mehr als ihr.«
Sie nimmt das Kind auf den anderen Arm und geht auf ein japanisches Paar zu, das ein Denkmal voller Taubenkacke fotografiert.
Sie sind schon auf dem Rückweg, als Irina im Fenster eines eleganten Restaurants, wo gerade für den Abend eingedeckt wird,
ein kleines Schild bemerkt, das diskret in einer Ecke hängt:
Aushilfe gesucht. Gute Bezahlung und Unterkunft.
»Andrij! Schau doch! Vielleicht ist das genau das Richtige für uns. Hier, mitten im Herzen von London. Lass uns reingehen.«
Was meint sie damit, genau das Richtige für uns? Warum sind sie und er plötzlich wir? Das wäre vielleicht gar nicht so übel,
denn sie ist wirklich hübsch, und sie hat ein gutes Herz und ist keine von diesen hohlen Nüssen, die immer nur daran denken,
was sie als Nächstes kaufen wollen, wie Lida Sakanowka. Doch er weiß nicht, woran er bei Irina ist. |256| Ständig ändert sie ihre Meinung. Und er steht mehr auf eindeutige Sachen. Ja oder nein.
»Du kannst ja fragen, wenn du willst.«
»Willst du denn nicht?«
»Ich glaube, ich bleibe nicht lange in London. Höchstens ein oder zwei Tage.«
»Und wo willst du dann hin?«
»Ich habe vor, nach Sheffield zu gehen.«
»Sheffield – wo ist das denn?«
»Im Norden. Dreihundert Kilometer.«
Ihr Lächeln erlischt. Sie runzelt die Stirn. »Ich würde sehr gern in London bleiben.«
»Du kannst ja hierbleiben. Kein Problem.«
Er starrt in das Fenster des Restaurants, um ihr nicht in die Augen sehen zu müssen, und beschließt, ihr nichts von Vagvaga
Riskegipd zu sagen.
»Sheffield ist eine schöne Stadt, weißt du. Eine der schönsten Städte
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