Caroline
antwortete nicht. Ich schallte mich um. Neben dem Treppenaufgang hing eine Plüschgardine, hinter der ich ein holzverkleidetes Badezimmer unter der Dachschräge erspäht hatte, mit Dusche, Toilette und Waschbecken. Der Rest des Dachgeschosses bestand aus einem einzigen großen Raum, inklusive einer Kochnische mit Kühlschrank, Mikrowelle und Kaffeemaschine. Es gab einen Esstisch, ein Sofa und einen verschlissenen Korbstuhl mit platt gesessenem braunem Samtkissen. Carolines Lieblingsplatz.
In den spitz zulaufenden vorderen und hinteren Hauswänden aus rotem Backstein waren keine Fenster. An der einen Seite führte die Treppe hinunter, an der anderen befand sich offenbar ein Schornstein, denn neben Bücherborden und einem Fernseher war an dieser Wand auch ein kleiner in gelben Sandstein montierter offener Kamin eingebaut – ungewöhnlich auf einem Speicher und vermutlich ein versicherungstechnisches Problem. In den Backsteinfächern darunter lagen Holzscheite und davor waren ein Armsessel und ein niedriger Tisch arrangiert.
Carolines Schreibtisch stand direkt mir gegenüber in der Dachgaube. Er war ein kleines Stück von der Wand abgerückt und der Stuhl stand so, dass sie im Sitzen hinausschauen konnte. Ich sah keinen Computer, aber auf einem Regal unter dem Fenster befand sich ein kleiner Drucker und daneben ein Stapel weißes Papier. Der Schreibtisch war leer, was mich verwunderte, weil ich damit gerechnet hatte, ein Chaos vorzufinden. Der Stuhl war ebenfalls leer und ich versuchte mir auszumalen, wie Caroline darauf saß und mich anschaute. Ich konnte sie mir ohne weiteres unter den provenzalischen Pinien vorstellen, aber nicht auf ihrem Platz an ihrem Schreibtisch. Nel hatte eines der Fenster geöffnet und ich sah auf Baumwipfel, Hausdächer und blauen Himmel. Dem Lichteinfall nach zu urteilen, war dies die Ostseite. Hier sah es völlig anders aus als in den unteren Wohnräumen. Ich konnte nicht genau sagen, wonach es überhaupt aussah, jedenfalls nicht wie das Zimmer eines Mädchens, das lieber ein Junge sein wollte. Aber auch nicht wie ein typisches Mädchenzimmer; es gab weder große Teddybären noch Poster von Popstars. Das einzige Poster zeigte die Vergrößerung einer russischen Madonna mit Kind.
»Vielleicht hat sie sich Hals über Kopf verliebt«, spekulierte ich.
»So ähnlich fühlt es sich an«, gab Nel zu. »Sie war aufgeregt und fröhlich, als ginge sie auf eine Party oder irgendwohin, worauf sie sich schon lange freute.«
Ich hörte ihr verwundert zu. »Wie kommst du darauf?«
»Das fühle ich.«
»Du hörst dich an wie ein überspannter FBI-Profiler in irgendeiner Fernsehserie.«
»Ich kann ja auch nichts dafür.«
»Wie dem auch sei.« Ich streichelte ihren Bauch. »Wenn Karel fröhlich war, hat die Polizei vielleicht Recht, und du brauchst nicht traurig zu sein.«
Ich beugte mich nach vorn, um sie auf die Augen zu küssen, doch sie hielt mich zurück. »Aber da war auch noch etwas anderes, etwas Bösartiges.« Nel öffnete ihre Augen und schaute mich an. »Ich glaube, sie ist tot«, flüsterte sie.
»Warum denn?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich hätte mit ihr in Kontakt bleiben sollen. Ich habe sie einfach so gehen lassen.«
Ich holte mein Taschentuch heraus und fasste sie an der Schulter. »Na, na, Nel. Jetzt hör aber auf.«
»Du hast ja Recht.« Sie ‚nahm mein Taschentuch. »So meine ich es auch nicht, na ja …«
»Was ›na ja‹?«
»Ich meine damit nicht, dass es meine Schuld ist. Aber wenn ich sie ab und zu angerufen oder ihr gemailt hätte, hätte ich vielleicht gewusst, womit sie sich beschäftigte und was sie vorhatte.«
»Ich weiß nicht, was du meinst.«
»Sie war sich nicht sicher, ob sie wirklich studieren wollte. Sie überlegte, sich einen Job zu suchen.« Nel bewegte ihre Schulter unter meiner Hand. »In einer Bücherei, im Buchhandel, in einem Verlag, irgendetwas, das mit Büchern zu tun hatte. Sie hätte jede Ausbildung, die sie dafür gebraucht hätte, mit Leichtigkeit geschafft. Mit Niederländisch hätte sie höchstens Lehrerin werden können, und das war überhaupt nichts für sie.«
»Aber selbst wenn sie einen Job gesucht hat, sehe ich darin keinen Zusammenhang mit ihrem Verschwinden, es sei denn …« Ich versuchte nicht zu lachen.
Nel schaute mich an. »Es sei denn was?«
Ich schüttelte den Kopf. »War ein blöder Witz.«
»Was für ein Witz?«
»Es sei denn, sie hat sich bis über beide Ohren in einen Bibliothekar verliebt oder in eine
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