Caroline
Bibliothekarin, mit der sie auf und davon nach Lesbos ist.«
Nel wurde nicht wütend. Sie war sehr blass. »Ich fühle irgendetwas Bösartiges«, flüsterte sie.
»Hier?«
Sie nickte. »Irgendetwas oder irgendjemanden.«
Manchmal rede ich leichtfertig über die Wände und ihr Gedächtnis daher, doch ich bin mir wirklich sicher, dass Menschen Spuren ihrer Gedanken und Taten zurücklassen, etwas, was in der Umgebung hängen bleibt, fühlbar oder hörbar, wie eine minimale Abweichung des Luftdrucks oder des normalen Hintergrundrauschens. In Carolines Dachwohnung spürte ich nichts und das einzige Geräusch stammte von einer Taube im Wipfel einer Tanne. »Meiner Meinung nach kommt hier nie jemand Fremdes her.« Ich tätschelte Nels Bauch. »Auf, an die Arbeit.«
Nel hob mit einem Schwung die Beine vom Bett und setzte sich neben mich. Bedrückt starrte sie in den Raum und fragte: »Weißt du, wie das hier für mich aussieht?«
»Ich kann es mir schon denken.«
»›Dachwohnung an ruhige Studentin zu vermieten. Wirtin häufig außer Haus.‹ Das Einzige, was fehlt, ist ein separater Eingang, wie es in den Anzeigen immer so schön heißt. Dann hätte die böse Stiefmutter sie überhaupt nie zu Gesicht bekommen müssen.«
»Stiefmutter?« Ich lachte. »Das käme Valerie gerade recht. Dann könnte sie Mutter Teresa spielen und jedem, der es wissen wollte, erklären, dass das Aussehen ihres Findelkindes das Erbe einer anderen Familie sei und sie nichts damit zu tun habe.«
»Ob sie etwas für ihre Tochter empfindet?«
Ich schwieg einen Augenblick. »Doch, natürlich.«
»Valerie ist das Rätsel«, sagte Nel. »Sie ist nicht greifbar. Wie ein Zeitungsblatt im Wind.«
Ich runzelte die Stirn über diese literarische Beschreibung, die ziemlich ungewöhnlich klang, jedenfalls für CyberNel.
»Hat sie dir gegenüber nur ihre Reize spielen lassen oder hat sie auch etwas über sich erzählt?«, fragte Nel.
Ich dachte nach. »Nein, hat sie nicht.«
Nel nickte. »Valerie ist das Geheimnis. Man weiß über sie nur, was alle Welt aus den Zeitschriften erfährt. Ihre Biografie beginnt damit, dass sie auf diese teure Mannequinschule in Mailand geht. Über die Zeit davor weiß man nichts, als habe sie einfach nicht existiert. Und über den Zeitraum von mindestens acht Jahren nach Beginn der Ausbildung wissen wir auch nichts. Ich habe das überprüft. Ein Foto hier, ein kurzer Artikel da; niemand weiß, wen sie manipulierte, um ihr Ziel zu erreichen, oder wer sie benutzt hat. Nach Ablauf dieser Frist stand sie auf einmal im Scheinwerferlicht und war berühmt. Valerie Romein, ein Foto in einer Art Fixierbad ihrer eigenen Scheinwelt, als sei sie nie jemand anderes gewesen und würde für alle Zeit so bleiben. Das einzige Relikt aus ihrer Vergangenheit ist ihre Tochter, und die ignoriert sie.« Nel nahm ein Buch von einem kleinen Bord neben dem Bett und schlug es an einer bestimmten Stelle auf. »Das mit dem Zeitungsblatt im Wind habe ich mir nicht selbst ausgedacht. Es bezieht sich auf eine egozentrische Rechtsanwältin, die in diesem Roman vorkommt.« Sie reichte mir das aufgeklappte Buch. »Es ist ein Roman von einer englischen Schriftstellerin, sehr schön. Ich kann mir denken, dass die Geschichte Caroline anspricht.«
Ich blätterte in dem Buch herum und schaute mir die Rückseite an. Der Name Sara Baswin sagte mir etwas, vielleicht hatte ich irgendwo eine Rezension gelesen. »Meinst du, dass Caroline weggelaufen ist und so tut, als ob sie entführt wurde, um ihre Mutter daran zu erinnern, dass es sie gibt?«
»Das wäre ein gefundenes Fressen für die Psychiater«, sagte Nel bedrückt. »Wenn es doch nur so wäre, dann hätte ich vielleicht nicht dieses schreckliche Gefühl, dass sie tot ist.«
»Ihre Mutter glaubt, dass Caroline lieber ein Junge gewesen wäre.«
»Und unterstützt das, indem sie sie Karel nennt?« Nel schüttelte den Kopf. »Unsinn. Projektion. Vielleicht glaubt Valerie, dass Caroline als Junge eine weniger schlimme Kindheit gehabt hätte, aber es wäre vor allem einfacher für sie selbst gewesen. Ein hässlicher Sohn ist nicht so schlimm wie eine hässliche Tochter. Allmählich hasse ich dieses Weib.«
»Du konntest sie schon auf Porquerolles nicht leiden.« Ich legte das Buch beiseite. »Was hast du herausgefunden?«
»Im Grunde gar nichts. Ich weiß nicht, was sie besitzt. Was allerdings garantiert fehlt, sind ihr Computer und dieses graue Buch, in das sie hineingeschrieben hat.«
»Vielleicht hat
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