Carpe Somnium (German Edition)
Lenker, legte seine Hände auf ihre und zog. Nelson schleuderte und kam stotternd zum Stillstand, das Heck nur wenige Zentimeter von der Wand entfernt.
Mistletoe presste die Luft, die sie angehalten haben musste, ohne es zu merken, aus ihren Lungen und warf einen Blick über die Schulter.
In Ditas Gasse war nichts zu sehen außer den Tränenbüschen, von denen sie einen gestreift hatten. Spröde, papierdünne Blätter legten sich auf ihre Spur. Gebannt und ängstlich beobachtete sie, wie das letzte Blatt zu Boden segelte. Die falsche Art Ladung lag in der Luft – und nicht bloß wegen Schlapphuts Armkanone.
Die Stille dauerte keine Sekunde, dann ließ die Explosion Tante Ditas Tür quer über die Straße wirbeln und eine Spur aus gelbroten Flammen und schwarzem Rauch hinter sich herziehen. Das Geräusch folgte unmittelbar auf den Blitz, ein scharfer Knall in ihren Ohren, ein dumpfer Schlag auf ihren Brustkorb. Überall in der Gasse das Klirren zerbrochenen Glases. Nelson schaukelte nach hinten gegen die Wand.
»Was war das?«, quiekte Ambrose.
Doch Mistletoe war wie betäubt, konnte nur zuschauen, wie das Dach von Tante Ditas hübscher kleiner Hütte in sich zusammenstürzte, auf die Menschen stürzte, die noch darin waren, auf den Deckenberg, in den Mistletoe sich hineingekuschelt hatte, wenn sie müde war, auf das Regal voll echter Trockenfrüchte, auf das selbstbewässernde Minigewächshaus, das sie gemeinsam auf dem Neuägyptischen Markt gekauft hatten. Das Gewächshaus hatte immer nur winzige, kümmerliche Karotten zustande gebracht. Es war ihr Lieblingswitz geworden: Wir werden nie wieder hungrig sein!
All das sah sie irrlichternd vor sich aufblitzen.
Dann riss sie sich los und drehte an Nelsons Gasgriff. »Wir müssen nachsehen, ob sie da drin ist.«
»Wir können nicht einfach –«
Mistletoe bremste scharf, als aus der dichten Rauchwolke, die die Gasse vor Ditas Hütte völlig vernebelte, urplötzlich Schlapphut und Rothaar hervorbrachen. Sie saßen auf schnittigen schwarzen ESCPD -Scootern, komplett ausgestattet mit kleinen runden Stabilisierkreiseln für Höchsttempo-Kurvenfahrten.
»Cops«
, zischte sie.
»Cops versuchen einen nicht einfach so umzubringen.«
»Vielleicht nicht da, wo du herkommst.« Sie warf einen Blick nach links: nichts als Wände. Rechts allerdings, halb verborgen hinter bröckelndem grünen Verputz, der in großen Platten von der Kneipenwand hing, zweigte ein unmöglich schmales Gässchen ab.
Glauben
, dachte sie und steuerte Nelson geradewegs auf den unteren Teil des Durchgangs zu, wo der Putz sich noch nicht gelöst hatte. Ein weiterer knisternder Impuls versengte ihren Zopf. In der Hoffnung, dass Ambrose noch ein Gesicht hatte, brüllte sie: »Ellbogen einziehen!«
Mit Vollgas raste sie in den Durchlass, hielt das Tempo. Nelsons Lenker schabte rechts und links an den Wänden, dass die Funken stoben. Falls die Gasse sich noch weiter verengte, würde der Scooter ziemlich abrupt stecken bleiben und sie beide würden ohne ihn weitersegeln. Mistletoe zog Nelsons Nase leicht nach oben über einen Haufen dreckiger Kleider, die ebenso gut ein toter Mann hätten sein können.
Weiter vorn verbreiterte sich die Gasse und mündete in die Straße hinter Ditas Hütte. Sie hatten es fast geschafft! Da blockierte plötzlich eine dunkle Gestalt den Ausgang. Es war einer der Cops, dessen Silhouette sich gegen das vergleichsweise helle Tageslicht draußen abzeichnete, während er direkt vor ihnen auf seinem leerlaufenden Scooter ruckartig auf und ab schwebte. Wie kam der so schnell dorthin? Mistletoe vermochte nur gerade so eben den Umriss von etwas auszumachen, das aussah wie ein –
»Schlapphut!«, brüllte Ambrose.
Zum ersten Mal überhaupt presste Mistletoe hektisch den Daumen auf einen roten Knopf mit der Aufschrift HA und hoffte inständig, dass Nelson aus seinem früheren Leben noch genügend Dampf im Hyperauftrieb hatte, um sich in die Höhe zu katapultieren.
Hatte er, und zwar reichlich.
Der Scooter jagte im selben Moment steil aufwärts, als der Cop feuerte, sodass der Impuls ein paar Meter unter ihnen hindurchknisterte. Mistletoe fühlte sich, als würden ihr sämtliche Eingeweide in die Beine gesaugt. Knirschend biss sie auf die Zähne und versuchte zu lenken, während der Scooter oben aus der Gasse herausschoss und noch immer nicht aufhörte zu steigen. Offenbar hatte Sliv auch die Düsen des Hyperauftriebs frisiert. Sie fürchtete schon, einen Riesenfehler gemacht
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