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Carpe Somnium (German Edition)

Carpe Somnium (German Edition)

Titel: Carpe Somnium (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andy Marino
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des Marktes. Das Männlein fing an zu kreischen. Anna rannte los. Als sie den gelben Schal schließlich wieder zu fassen bekam, drehte Dita sich zu ihr um, ohne ein Lächeln.
    Manche Sachen sollte man niemals verkaufen.
    Im Tunnel überlegte Mistletoe, ob es sich bei diesen Chmura Dité wohl um die Nachkommen jenes Schwarms handelte, den Dita befreit hatte, oder um eine Schöpfung von Magnus und Ivor.
So oder so,
dachte sie,
sie wollen hier raus. Welcher Vogel sitzt schon gern unter der Erde in der Falle?
Sie wirbelte Nelson herum und folgte den Vögeln in einen stetig ansteigenden Tunnel.
    Nach einer Weile fiel ihr auf, dass sie den warmen Metalllenker zwischen Daumen und Zeigefinger rieb, als wäre er Ditas Schal. Sie blinzelte ein paar Tränen zurück. Stützen flogen vorüber wie leere Türzargen. Ein Gedanke, unklar und dunkel, formte sich im Nachhall ihrer Erinnerung an den Markttag: Tante Dita wusste, was Magnus und Ivor wussten, und sie hatte es geheim gehalten, seit Mistletoe auf der Welt war. Und Jiri ebenso, was bedeutete, dass es einen absolut perfekten Ausgangspunkt für ihre Nachforschungen gab: Jiris Trödelladen, vollgestopft mit den Zeugen der Vergangenheit – und vielleicht ein paar Hinweisen auf ihre eigene.
    Ohnehin würde sie bessere Waffen brauchen.
    Als die Chmura Dité allmählich weniger sprunghaft umherflatterten, verlangsamten die Schwärme ihren Flug und formierten sich zu einer dichten Wolke. Mistletoe schien die Luft mit einem Mal deutlich kühler. Zu beiden Seiten löste massives Mauerwerk die Stützen ab, der Tunnel wurde steiler. Ungestüm jagten die Chmura Dité auf zwei horizontale Lampen in einer Wand zu, an der der Tunnel jäh endete. Mistletoe drosselte ihre Geschwindigkeit und sah verblüfft zu, wie die Lampen die Vögel verschluckten. Keine Lampen, wurde ihr klar – Ausgänge. Als auch die letzten Nachzügler verschwunden waren, tastete sie sich langsam vorwärts, um durch die Löcher zu spähen. Es gab nicht viel zu sehen: Der Tunnel mündete in den unteren Teil eines Luftschachts. Es war unmöglich zu sagen, ob sie sich in Little Saigon befand oder in irgendeinem anderen Viertel, aber immerhin war das hier ein Weg nach draußen. Die Schlitze waren zweifellos breit genug für sie, um hindurchzukriechen. Das Problem war Nelson, denn mit ihm würde es ganz schön knapp werden.
    Aber sie konnte ihn nicht einfach zurücklassen.
    Sie setzte ein Stück zurück und ließ den Motor aufheulen.
    »Okay, Nelson. ’tschuldige, geht nicht anders.«
    Sie gab Vollgas, hielt die Nase unten und zielte auf den unteren Schlitz. Die Zeit gefror.
Glauben
, dachte sie. Kurz bevor ihr Kopf gegen die Wand krachte, warf sie ihr ganzes Gewicht nach unten und hinten, riss mit aller Kraft den Lenker herum und richtete die Auftriebe auf die Öffnung. Sie schaltete sie im selben Moment ab, als sie waagrecht durch das Loch schlitterte.
    Kreischend schabte der Lenker über das Mauerwerk.
    Sie schloss die Augen.
    Als der Tunnel sie ausspuckte, entglitt Nelson schleudernd ihrem Griff und sie landete unsanft auf dem müllübersäten Boden des Luftschachts. Sie zuckte zurück, als Nelson unterhalb eines mit Brettern vernagelten Fensters gegen die gegenüberliegende Wand donnerte.
    Sie schnappte nach Luft und betastete ihre Gliedmaßen: nichts gebrochen.
    Ihr Herz raste, während sie durch den knietiefen Abfall watete, um ihren Scooter zu untersuchen. Ein widerlich süßer Geruch nach fauligem Obst ließ ihre Augen tränen.
    Der Lenker war an den Enden aufgerissen und gratig, der Auspuff verbogen und leicht zerbeult. Aus einem schmalen Riss im Sitz sickerte ein bläuliches Gel. Das Innenleben von Temperfoam? Saft aus dem Hyperauftrieb? Sie wusste es nicht und hoffte, es sei nicht weiter wichtig.
    Sie richtete den Scooter auf und setzte sich. Mit schnellem Blick sondierte sie ihre Lage: vier senkrecht aufragende Backsteinmauern mit behelfsmäßigen Balkonen – breite Planken, die sich von einem geöffneten Fenster zum nächsten streckten – kreuzweise, sodass sie sich überschnitten und ihr die Sicht nahmen. Lampen baumelten von den Planken, warfen lange, ovale Schatten die Wände hinab und tauchten Teile des Müllhaufens in grelles Licht.
    Sie beklopfte das Brett vor dem untersten Fenster. Es war wurmstichig und völlig vermodert.
    »’tschuldige noch mal«, sagte sie und startete Nelson mit einem raschen Tritt. Er ruckelte kurz, dann stob er mit der Nase voran durch das splitternde Holz.
    Abermals befand

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