Carpe Somnium (German Edition)
sie sich im Innern der leeren Grundmauern eines Atmoscrapers. Sie kurvte durch den Wald aus Plastahl-Stützen, ließ Nelson durch ein offenes Fenster springen, gelangte hinaus ins diffuse Dämmerlicht eines subsphärischen Abends. Es roch nach billigen Zigarren und feuchtem Schweiß.
Eine Stunde später verstaute sie den Scooter im tiefen Schatten unter einer verlassenen Hüttenveranda. Mit einem Plopp löste sie ihre Schutzbrille – die Saugnäpfe zerrten an der Haut um ihre Augen – und hängte sie an den Lenker. Sie hasste es, Nelson allein und unbeaufsichtigt zu lassen, aber sie hatte nicht die Absicht, mit Pauken und Trompeten vor dem Trödelladen aufzutauchen, der mit größter Wahrscheinlichkeit überwacht wurde. Einer späten Eingebung folgend, öffnete sie das Fach unter dem Sitz, holte den Taser heraus und schob ihn in ihren Ärmel.
Sie bahnte sich ihren Weg durch eine gewundene Straße, an einer lautlosen Prozession schwarz gekleideter Mönche vorbei. Gleich am Ende des Blocks, eingekeilt zwischen einem Frisiersalon für ältere Damen und einem längst verwaisten Blumengeschäft mit einem totenbleichen Bonsai auf dem billigen Fiberglasschild, lag Jiris Laden. Nichts verriet, dass es sich überhaupt um ein Geschäft handelte. Von außen wirkte es wie die Wohnung eines sammelwütigen Irren. Chaotische Stapel von allerlei Krimskrams türmten sich vor den zwei schmalen Vorderfenstern, alles davon stand zum Verkauf. Mistletoe lächelte, als sie daran dachte, wie Jiri einen Gegenstand im Laden nur kurz anzusehen brauchte und dem völlig verdatterten Kunden sofort den Preis entgegenbellte. Sie schlich an eines der Fenster heran und linste durch eine kleine Lücke zwischen den Warenstapeln. Das Deckenlicht war aus, doch der Verkaufsraum flirrte ständig im kümmerlichen Schein winziger roter und grüner LED s.
Dann war da plötzlich ein weiteres Licht – der schmale Kegel einer Taschenlampe zuckte in der Mitte des Raums hin und her, hüpfte schwerelos über Haufen von Laptops, Klimaanlagen, Spielkonsolen. Die einsame Kohlkopfpuppe. Mistletoe duckte sich unter die Fensterbrüstung, als der Lichtstrahl in die Lücke zwischen den Stapeln fuhr.
Es hört nicht auf
, dachte sie.
Ivor hatte recht, was Martin Truax betrifft: Er wird niemals Ruhe geben.
Sie ließ den Taser aus ihrem Ärmel gleiten und kauerte sich in den Hauseingang, um zu warten.
8
Die Fratze des Drachen
Sonia Carter hatte große Augen voll funkelnder Grautöne, wie die Oberfläche eines schnell fließenden Flusses. Sie gaben Ambrose das ungute Gefühl, Unison hätte sich gewissermaßen um ihn herumgestülpt und formte nun eine Art Tunnel, der direkt in ihren Kopf führte. Sie akzeptierte seine Freundschaftsanfrage. Ihr Gedanken-Stream poppte auf und verband sich mit seinem eigenen.
Sonia Carter fragt sich, weshalb Takashi mit seinem nächsten Besuch immer so lange wartet.
Takashi Nakamura ist 0111001101101111011100100111001001111001.
Binär
, dachte Ambrose.
Er ist aufgeregt.
Sie standen in einem kleinen Konferenzraum – runder Tisch, ein Dutzend Stühle, keine Fenster – tief in den labyrinthischen Eingeweiden des Massen-Intensiv-Entertainment-Zentrums, wo Sonia gerade vor Investoren ihre Präsentation des neuesten Upgrades für ihre UniPetz-App beendet hatte. Das Upgrade ermöglichte die Einbindung eines empfindungsfähigen Haustiers in den Gedanken-Stream eines Users. Ambrose sah zwar eigentlich keinen Sinn darin, ein Fenster zur Seele einer seelenlosen künstlichen Kreatur aufzustoßen, hielt das Ganze aber durchaus für höchst profitabel.
Überall um sie herum das Geplauder geisterhafter Investoren, die soeben in Zweierreihen den Raum verließen.
Mit einem Blinzeln entzog Ambrose sich Sonias hypnotischem Blick. Sie trug einen reinweißen ledernen Trenchcoat mit einem breiten karmesinroten Streifen am unteren Saum, der sich eng um ein Paar schwarze Stiefel legte. Ein pelziges, frettchenartiges Geschöpf mit runzliger Nase schlängelte sich um ihren Knöchel und war eifrig damit beschäftigt, Takashis Stimmungsschatten zu beschnüffeln, der als orangerot schillernder Farbklecks wiederaufgetaucht war.
»Willkommen im MIEZ «, sagte sie. Der Klang ihrer Stimme war maßvoll und zurückhaltend.
Das genaue Gegenteil zu Mistletoes schnoddrigem Subsphärenslang
, dachte er und fühlte unerwartet einen schmerzhaften Stich. Er nahm sich fest vor, dass er ausflimmern und nach ihr sehen würde, sobald er sich von Sonia ein paar Informationen
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