Carpe Somnium (German Edition)
Scooter, glitt im Schritttempo durch die salonartig beleuchtete Eingangshalle der beiden Brüder und hinein in den schummrigen, säuerlich riechenden U-Bahn-Tunnel. Über den Schienenschwellen geriet Nelson zunächst heftig ins Holpern, dann passte er sich dem Untergrund an. Sie schaltete den Scheinwerfer ein und würgte vor Überraschung den Motor ab. Der Tunnel war wesentlich breiter, als sie gedacht hatte. Das Gleis, auf dem sie sich befand, war nur eines von Dutzenden, die an einigen Stellen parallel verliefen und sich an anderen verzweigten, um sich abwärts in der Dunkelheit zu verlieren. Die Gleise waren jeweils durch eine Reihe vertikaler Stützen voneinander getrennt, ähnlich den Korridoren eines halb fertigen Gebäudes.
Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, wie sie von hier aus zu dem stillen Zoo zurückfinden sollte. Little Saigon schien unerreichbar fern. Sie war schon kurz davor, sich auf gut Glück für einen Schienenstrang zu entscheiden, als ein leises, aber deutlich vernehmbares Rascheln sie aufhorchen ließ. Sie nahm die Hände vom Lenker und klemmte sie als Geräuschfänger wie Muscheln hinter ihre Ohren, um besser hören zu können. Das Rascheln klang jetzt lauter, irgendwas Unsichtbares kam offenbar direkt auf sie zu. Sie beugte sich nach vorn, das Kinn auf den Lenker gepresst, und legte sich flach auf den Scooter – da jagte die wilde Horde auch schon kreischend aus der Dunkelheit.
Fledermäuse
, dachte sie, doch als der erste Schwarm in chaotischer Hast über sie hinwegflatterte, erkannte sie, dass es winzige weiße Vögel waren, nicht größer als ihre Hand. Sie umschwirrten einander in dichten wolkenartigen Trauben, um die wie Elektronen einzelne Vögel kreisten. Zu Tausenden strömten sie vorwärts durch die modrige Luft über ihrem Kopf. Mistletoe rümpfte die Nase bei dem Geruch nach Füßen, den sie aus den oberen Schichten der Tunnelluft nach unten wedelten. Sie hielt den Atem an und sah gebannt zu, wie einer der Vögel im Flug die Balance verlor, im Lichtkegel von Nelsons Scheinwerfer abwärtstrudelte und vor ihr auf den Schienen landete.
Das weiße Federkleid des kleinen Geschöpfs war makellos rein, bis auf einen winzigen roten Fleck zwischen seinen Augen, der an der Oberseite seines weißen Schnabels entlanglief und in einem gestochen scharfen schwarzen Punkt endete. Der Vogel spähte hinauf zu Mistletoe (sie hätte schwören können, dass sie ihn im grellen Licht blinzeln sah), wackelte mit dem Kopf, öffnete den Schnabel, ließ ein leises
Tschiwiieep!
hören und flatterte dann zurück in den stürmischen Zug seiner Artgenossen.
Vor Jahren hatte Mistletoe Vögel wie diese schon einmal gesehen, bei einem Ausflug zum Neuägyptischen Markt. Sie waren wütend in einem reich verzierten, goldgesprenkelten Käfig umhergeschwirrt, der am Heck eines Karren hing, dessen Besitzer exotische Haustiere, Qualitätsabsinth und umformatierte Handys verkaufte. Mistletoe und Dita waren eine kleine Ewigkeit über den Markt geschlendert, hatten bloß geschaut, nicht auf das Drängen der Händler und das beharrliche Gefeilsche der Käufer geachtet. Dita trug einen langen gelben Schal, den sie mehrfach um Hals und Schultern geschlungen hatte, und Mistletoe klammerte sich an das tief herabhängende Ende des dünnen Stoffs, rieb es im Gehen gedankenverloren zwischen den Fingern.
Anna
, sagte Dita und zeigte auf den Käfig.
Was sind das für welche?
Chmura Dité, so hat meine Mutter sie immer genannt. Wolken-Kinder. Siehst du, wie sie einen kleinen Schwarm bilden? Nur indem sie alle gemeinsam fliegen, bewegen sie sich von einem Ort zum andern.
Anna sah hinauf zu Dita, die jetzt beobachtete, wie das rundliche Männlein, das für den Karren verantwortlich war, sich mit einem torkelnden Paar über den Absinthpreis stritt. Instinktiv ließ sie ihr Ende des Schals los, als Dita hinter den Käfig schlüpfte und sich zwischen den Vögeln und dem rotgesichtigen kleinen Kerl postierte. Etwas blitzte aus Ditas Tasche hervor, durchschnitt in einem blendend weißen Bogen die Luft. Sie blickte kurz zurück zu Anna und deutete mit einem kaum merklichen Nicken zum anderen Ende des Marktes, dann tauchte sie ab in die Menge. Doch Anna stand da wie angewurzelt, während eine Seite des Käfigs zerschmolz, als Brei auf den Boden troff und zu einer klumpigen goldenen Brezel aushärtete. Die Vögel flatterten durch das Loch, stoben in wechselnden Schwärmen über die Menge davon, flohen, wie Tante Dita, zum anderen Ende
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