Carpe Somnium (German Edition)
schluckte. Die einzigen Hunde, die sie kannte, waren die räudigen Streuner, die durch die subsphärischen Straßen zogen und mehr Angst vor ihr hatten als sie vor ihnen. Der hier war irgendwas anderes – sie war nicht mal sicher, dass dieses Ding ein Hund war.
Hinter ihr stöhnte Ivor vor Schmerz.
Der Ziegenhund ließ den feucht glänzenden Schlagstock zwischen seine Vorderpfoten fallen. Er zuckte die Lefzen, einmal, zweimal – und knurrte. Mistletoes Zopf sträubte sich in ihrem Nacken. Sie schluckte erneut, die Luft war staubtrocken. Der Ziegenhund kam jetzt auf sie zu, wachsam, sprungbereit. Sie warf Nelson einen sehnsüchtigen Blick zu. So nah dran. Das Fell des Ziegenhunds stellte sich auf, eine stachlige Welle lief über seinen Rücken. Mistletoe fragte sich, ob er sie wohl direkt an der Kehle packen und wie genau sich das anfühlen würde.
»Patricia!« Ivors Stimme hinter ihr, in scharfem Ton. »Sitz!«
Augenblicklich schnellten die Ohren der Kreatur in die Höhe wie eifrige Periskope.
Patricia?
, dachte Mistletoe. Der Ziegenhund hockte sich auf sein Hinterteil und hechelte erwartungsvoll.
»Platz!«
Sie drehte sich um. Ivor saß auf dem Boden, hatte die Arme um seine Knie geschlungen und funkelte Mistletoe zornig an. Magnus kniete neben ihm, vollkommen reglos.
Mistletoe wusste nicht, was sie sagen sollte.
Danke
schien ihr reichlich unangebracht. Mit einem Nicken deutete sie auf Ambrose, der nach wie vor in dem Drahtstamm hing.
»Den nehm ich mit. Wie krieg ich ihn da raus?«
»Gar nicht«, sagte Ivor bitter und rieb sich das Schienbein. Dann fügte er hinzu: »Du kannst natürlich tun, was du willst – aufhalten kann ich dich wohl sowieso nicht. Aber wenn du trotz der frischen Hartkodierung, die noch wund und ungeschützt ist, von außen sein Log-in unterbrichst, vermag ich für seine Sicherheit nicht zu garantieren.«
Mistletoe kaute an ihrer Lippe. Sie schaute zwischen den frei schwebend projizierten Daten, den Farbfeldern und Textblöcken hindurch in Ambroses weit aufgerissene Kohlkopfpuppen-Augen. Es bestand durchaus die Chance, dass Ivor bluffte, dass Ambrose, wenn sie ihn mit einem Ruck aus dem Drahtstamm riss, einfach aufwachte und es ihm gut ging und sie beide gemeinsam entkommen würden.
»Leichte Desorientiertheit ist eine der möglichen Folgen«, sagte Ivor. »Die schwere Schädigung des Frontallappens eine andere.«
Darauf wollte sie es nicht ankommen lassen. Aber wenn sie Ambrose hier zurückließ, wohin sollte sie gehen? Sie sah zu, wie der alte Mann sein Bein untersuchte. Fast tat er ihr leid, sodass sie sich rasch ins Gedächtnis rief, wie er sie herumkommandiert hatte, als wäre sie nichts weiter als ein seelenloses Rädchen im Getriebe seines persönlichen Rachefeldzugs gegen Martin Truax. Sie beschloss, dass sie besser dran war, wenn sie den Dingen allein auf den Grund ging, selbst wenn das bedeutete, Ambrose zurückzulassen – vorläufig.
Ohne ein weiteres Wort marschierte sie schnurstracks auf Nelson zu, tätschelte unterwegs behutsam Patricias Kopf, fuhr kurz über das weiche Fell zwischen den Hörnern. Im Vorübergehen griff sie nach dem vollgesabberten Schlagstock, schnitt eine Grimasse und hob ihn auf, indem sie ihn zwischen Daumen und Zeigefinger hielt.
»Dein Standpunkt ist mehr als deutlich geworden, Anna!«, rief Ivor ihr nach. »Und jetzt hör mir zu: Du machst einen Fehler!«
Sie zog den Lenker des Scooters aus dem Mikrowellenstapel und zwängte den Taser in das kleine Fach unter dem Sitz.
»Sei nicht dumm«, fuhr Ivor fort. »Die werden dich gnadenlos jagen, da kannst du sicher sein. Glaubst du, Martin Truax wird das Ganze einfach so vergessen? Du und Ambrose seid seine kostbarsten Experimente.
Er wird niemals Ruhe geben.
«
Sie trat den Scooter an.
»Du bringst dich um eure einzige Chance! Wenn er euch findet, wird er –«
Der Motor kam stotternd auf Touren, übertönte Ivors Stimme. Mistletoe fühlte, wie das Energiepolster sich unter ihr ausdehnte. Nelson roch nach ihrer muffigen alten Baracke, nach Grillfleisch von der Fressbude an der Straße, nach tausend Beinaheunfällen und kleinen Kratzern. Nelson roch nach Zuhause. Sie jagte an den langen Reihen von Prä-Unison-Gerätschaften vorbei, stieg kurz ab, um die eiserne Tür zu öffnen, und blickte rasch ein letztes Mal zurück zu dem Drahtstamm, voller Sorge bei dem Gedanken an das heimliche Leben, das sie mit dem Jungen teilte, den sie jetzt hier zurückließ.
Sie schwang sich wieder auf den
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