Carpe Somnium (German Edition)
Vater außerhalb der Grenzen von UniCorp agiert hatte, um sein persönliches Projekt vor Ambrose und den übrigen Kollegen zu verbergen, hatte Sonia in all dem Klatsch womöglich das eine oder andere relevante Detail aufgeschnappt. Er sah zu, wie sie sich den Stiefel vom rechten Fuß streifte und mit dem großen Zeh eine Linie in den Staub zeichnete. Ein Löwe erschien am Rand der Arena unter ihnen und trottete behäbig bis zur Mitte, wo er sich schlaff auf sein Hinterteil fallen ließ und den massigen Schädel auf die Vordertatzen legte.
Takashi beugte sich vor und zog mit seinem Finger eine parallele Linie in den Sand. Ein fetter roter Drache mit schuppigen, seitlich an den Rumpf gefalteten Flügeln schlängelte sich vom gegenüberliegenden Ende in die Arena. Der Löwe hob den Kopf und beäugte den Drachen argwöhnisch.
»Tja.« Sonia wandte sich Ambrose zu. »Bei mir ging’s im Grunde bloß ums Geschäft. Wo sonst kann ein fünfzehnjähriges Mädchen so viel Geld machen? Da draußen brauchst du Patente und Ingenieur-Teams. Hier drin brauchst du nichts weiter als das Rohmaterial, die Ideen und die Konzepte.«
Wenn du fünfzehn bist, bin ich Adam Trevor.
»Aber du programmierst deine Apps doch nicht ganz allein, oder?«
»Ich bin UniCorp-Subunternehmerin. Die übernehmen die Kleinarbeit und kriegen dafür ihren Anteil.«
Ambrose war von ihrer Offenheit überrascht. »Dann bist du also gar keine unabhängige Entwicklerin?«
»Ebenso wenig wie jeder andre, schätze ich. Wenn du glaubst, UniCorp hätte nicht bei allem, was du hier drin auf die Beine stellst, die Finger im Spiel, bist du ein Trottel.«
»Nimm das MIEZ «, sagte Takashi. »Es ist ein von Usern geschaffener und betreuter Raum, aber UniCorp kann den Stecker ziehen, wann immer es ihnen passt. All das« – er machte eine Geste in Richtung Löwe und Drache, die einander inzwischen lauernd umkreisten – »würde sich in einer Mikrosekunde in Luft auflösen.«
»Warum sollten die das tun?«, fragte Ambrose.
»Wer weiß schon, was in seinem Kopf vorgeht?«, erwiderte Takashi.
Sonia warf ihm einen vernichtenden Blick zu. Der Stimmungsschatten verdrückte sich unter die steinerne Bank. Takashi richtete seine Aufmerksamkeit auf die Arena, wo der Drache jetzt ein Paar gewaltiger durchscheinender Flügel ausgebreitet hatte, von Adern durchzogen wie blutunterlaufene Augen. Sie schwangen leicht auf und ab, gerade stark genug, um den Körper des Drachen über den Löwen zu heben, während sein Schwanz noch den Boden berührte. Die Tatzen des Löwen wühlten die Erde auf.
»In wessen Kopf vorgeht?«, fragte Ambrose – doch er wusste es bereits.
Sonia biss sich auf die Lippe und nickte Takashi kurz zu. Er grinste, und Ambrose registrierte ein heftiges Aufwallen in Takashis Gedanken-Stream.
Takashi Nakamura verlangt nach Löwenblut.
Der Drache legte die Flügel an und schnappte pfeilschnell nach dem Hals seines Gegners. Der Löwe wirbelte herum, sodass die dolchartigen Zähne des Drachen sich tief in seinen pelzigen Rücken gruben. Sein Brüllen wurde von einem ganzen Chor beantwortet. Dutzende weiterer Löwen stoben aus verborgenen Gruben und jagten auf den Drachen zu, der sich sofort mit wütendem Flügelschlag in die Höhe schwang und seinen langen roten Schwanz gegen die gierigen Mäuler schleuderte. Der Drache kreischte und im nächsten Augenblick stieß schillernd in Rot, Gelb und Grün seine eigene Verstärkung über die bröckelnde Steinwand des Amphitheaters herab in die Arena.
Ambrose durchschaute den Plan: Die beiden inszenierten Chaos, um ein riskantes In-Unison-Gespräch zu decken. Eine solche Schlacht, wie sie um sie herum gerade tobte, konnte die UniCorp-Scans für ein paar kostbare Minuten empfindlich stören.
»Martin Truax«, sagte Sonia schließlich. »Der Schöpfer. Er, der gibt, er, der nimmt.«
»Was ist mit ihm?«
»Der Klatsch unter Freien wie mir ist größtenteils reine Spekulation. Die Hälfte ist seichtes Geschwätz, die andre Hälfte bloße Strategie, die darauf abzielt, die Meute irrezuführen, den eigenen Ideen mehr Platz zu verschaffen, schneller zu sein als all die andern Heimwerkertypen. Aber seit Kurzem überschlagen die Twitterhirne sich förmlich. Es heißt, Martin sei irgendwie bösartig geworden und selbst seine persönlichen Berater wüssten nicht mehr, was er so treibt, weil er nämlich vorhabe, die Version 3.0 ohne Ankündigung auf alle Welt loszulassen und damit alles auszulöschen, was vorher da war. Alle
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