Carpe Somnium (German Edition)
warum.
Sie bog um die Ecke und presste sich sofort an die Wand des verlassenen Blumengeschäfts. Der Oberstadt-Cop, der sie vorhin gejagt hatte – der mit dem Hut –, hielt seinem Kollegen Rothaar die Tür von Jiris Laden auf. Mistletoe rollte sich wie eine Kugel zusammen. Nichts weiter als eins dieser Subsphären-Gören, die auf der Straße schliefen.
Sie öffnete ein Auge und beobachtete, wie die Cops in der Menge verschwanden. Gut möglich, dass Shampoo ihr das Leben gerettet hatte: Mit
zwei
Typen im Laden hatte sie nicht gerechnet, und wenn die beiden die Tür aufgemacht und sie dort erwischt hätten, wäre sie erledigt gewesen, trotz ihrer Waffe.
Sie stellte sich den kleinen Jungen vor, wie er in irgendeiner Gasse kauerte und sich fragte, warum das Mädchen, das immer so nett zu ihm gewesen war, sich urplötzlich so gemein verhielt.
Bleib weg von mir
, dachte sie.
Ich bin nicht die, für die du mich hältst.
Ich bin ja nicht mal die, für die ich mich gehalten hab.
Als die Cops bereits seit ein paar Minuten außer Sicht waren, setzte sie sich auf und ließ ihren Blick über die Menge wandern. Keine bekannten Gesichter. An der Tür des Trödelladens drückte sie probehalber auf die Klinke. Schlapphut und Rothaar hatten hinter sich abgeschlossen. Neben der Tür gab es eine quadratische Platte, die etwas dunkler war als der Rest der Wand. Sie schob sie beiseite. Ein Tastenfeld erwachte blinkend zum Leben. Sie tippte Jiris Passwort ein, dann drückte sie ihren Daumen auf eine kleine Glasplatte. Jiri mochte ein einsamer, geheimnistuerischer Mann gewesen sein, doch mit seinem Laden vertraute er ihr.
Die Tür klickte. Mistletoe schlüpfte hindurch und blieb sofort wie angewurzelt stehen, um abzuwarten, bis das widerliche Gehusche aufhörte. In der Hütte wimmelte es von Kakerlaken, die in alle Richtungen davonstoben, wann immer ein Mensch ihre Party sprengte. Hoffentlich hatten sie wenigstens die Cops in den Wahnsinn getrieben.
Als die Geräusche im Laden verstummt waren, schlich sie rasch einen Gang aus Toastern entlang, an einer riesigen Kiste mit Handys vorbei, zu einem Wandschrank im hinteren Teil des Raums. Dort schob sie eine weitere Platte beiseite. Was sein Spezialsortiment anging, hatte Jiri ihr definitiv
nicht
vertraut, aber sie hatte herumgeschnüffelt und war auf sein Passwort gestoßen. Sie wartete auf das Klicken, dann zog sie mit beiden Händen die schwere Tür auf.
Ein funzeliges Licht an der Rückwand der langgestreckten Kammer beleuchtete zwei sorgfältig bestückte Regale mit Metallwaffen: kurze, unscheinbare Taser-Schlagstöcke wie der, den sie Ivor geklaut hatte; längliche, hohle Disruptoren, die man über den Unterarm zog und die sich zu einer Spitze verjüngten, sobald man die Faust ballte; L-förmige Pistolen mit Prä-Unison-Teilen. Sie stöberte in der Reihe der Disruptoren, bis sie den kleinsten gefunden hatte. Tiefe Kratzer zerfurchten kreuz und quer seine graue Ummantelung und legten die silbrige Panzerung frei.
Du passt zu Nelson
, dachte sie und schob ihre Hand hinein, bis der Schlauch ihren Unterarm bedeckte. Sie ballte die Faust und sofort sprang die orangerote Spitze vor ihren Knöcheln in Feuer-Position. Als sie die Hand wieder öffnete, glitt die Spitze zurück in ihr Gehäuse und die Waffe verschwand vollständig in ihrem Ärmel.
»Du brauchst einen Namen«, flüsterte sie. Doch ihr fiel keiner ein.
Neben den Regalen hatte Jiri staubige Schachteln mit Patronen aufgestapelt. Sie arbeitete sich gerade durch die Berge uralter Munition, als sie mit dem Schuh gegen einen metallenen Gegenstand stieß und ihn quer über den Fußboden schoss. Mit einem besorgniserregenden Klirren landete er an der Wand. Kakerlaken huschten umher. Sie kniete sich hin und entdeckte ein rechteckiges Metallkästchen von der Größe und dem Gewicht des zerfledderten Wörterbuchs, das Jiri in ihrer Hütte aufbewahrt hatte. Sie schüttelte es. Der Inhalt raschelte leise. Sie untersuchte das Kästchen von allen Seiten, konnte in dem trüben Licht jedoch nirgends den Schließmechanismus erkennen. Am Metall selbst waren keinerlei Fugen zu sehen – das Kästchen war zugeschweißt worden. Was konnte Jiri dermaßen wichtig gewesen sein, dass er es in seinem Waffenschrank eingeschlossen hatte?
Mit dem Disruptor unterm Ärmel und dem Kästchen in der Hand verließ Mistletoe die Kammer, drückte die schwere Tür ins Schloss und wartete, bis die Kakerlaken sich in der Dunkelheit neue Verstecke gesucht
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