Carpe Somnium (German Edition)
seinen Körper schlängelte. Sie begann, alle Luft aus ihm herauszupressen, fester und fester, bis eine Rippe brach wie ein Zweig. Er versuchte, seine Schmerzen hinauszuschreien. Der Atem erstarb ihm in seiner Kehle. Es fühlte sich an, als drückte jemand ihn unter Wasser. Dann war es vorbei.
Er öffnete seine Augen, auch wenn er sich nicht erinnerte, sie geschlossen zu haben.
Er saß seinem Bruder gegenüber im Transporter. Sein Herz schlug wie wild.
Len starrte ihn prüfend an und kniff das eine Auge dabei etwas mehr zusammen als das andere. Er wirkte weder entsetzt noch beunruhigt. Das Sicherheits-Team schob sich in Reih und Glied an ihnen vorbei, raus aus dem geparkten Transporter.
»War das der erste Vorfall?«, fragte Len.
Ambrose blinzelte gegen das Nachbild des Drachengesichts an, das sich ihm ins Gedächtnis gebrannt hatte ähnlich dem Umriss eines hellen Lichts. Die Furcht traf ihn wie ein Faustschlag:
Ich werde wahnsinnig.
Er holte tief Luft und drückte vorsichtig einen Finger auf seine Rippen. Kein Schmerz.
»Lass uns das einfach durchziehen.«
Er kletterte aus dem Gefährt hinaus in ein schummriges, fensterloses Dock, in dem es feucht und unterirdisch roch.
»Wir sind im Innern des Sphärenschilds«, erklärte Len. »Das hier gehört zum alten Netz der Forschungs- und Entwicklungslabors direkt unter dem UniCorp-Gebäude.« Er legte seine Handfläche auf eine Stelle an der glatten grauen Wand, woraufhin eine verborgene Tür aufglitt. Ambrose folgte seinem Bruder in einen erstaunlich noblen Aufzug, vergleichbar dem in der Lobby.
Das Sicherheits-Team drängte sich zu ihnen herein. Ambrose spürte den Druck eines Disruptorkolbens in seinem Rücken.
»’tschuldigung«, murmelte einer der Mitarbeiter – was das erste Mal war, dass Ambrose einen von ihnen etwas hatte sagen hören.
Während der Aufzug lautlos nach oben sauste, versuchte Ambrose sich an einem raschen Process Flow. Seine Routine geriet sofort ins Trudeln, stieg ihm zu Kopf, machte ihn schwindlig. Er meinte, eine schattenhafte Ereignisfolge wahrgenommen zu haben wie vergessene Worte, die einem auf der Zunge liegen. Ein vereinzelter nebliger Endpunkt tauchte auf: Die Wahrscheinlichkeit, dass er Mistletoe fand, stieg in Unison.
Das ergab keinen Sinn. Sie hatte ja nicht mal eine Log-in- ID . Seine Routine spielte nach wie vor völlig verrückt.
»Stockwerk dreifünfundsiebzig«, verkündete Len. Die Sicherheits-Leute verlagerten ein paarmal kaum merklich ihr Gewicht. Zwei oder drei von ihnen räusperten sich.
Ambrose erinnerte sich plötzlich an ein Wiki Amerikanischer Geschichte, das er vor Jahren studiert hatte: hagere, grimmig dreinblickende Soldaten, nicht viel älter als Len, zusammengepfercht an Bord eines kastenartigen Bootes, die darauf warteten, dass sich die Rampe zu den Stränden Frankreichs hin öffnete. Und dann sah er auch das nächste Bild in der Serie vor sich, den dicht geschichteten Haufen regloser Körper, die nur wenige Augenblicke zuvor noch junge Männer gewesen waren.
»Warte«, sagte er zu Len, doch es war zu spät. Im selben Moment glitt die Tür auf.
Das Labor war schwach beleuchtet und menschenleer. Ambrose atmete auf. Len warf ihm einen besorgten Blick zu, während das Sicherheits-Team in den Raum ausschwärmte und mit einer zügigen Durchsuchung begann, Disruptoren im Anschlag. Schließlich winkte einer der Mitarbeiter kurz mit der Hand.
»Alles klar«, sagte Len und trat aus der Kabine. Ambrose folgte ihm. Die Tür glitt hinter ihnen ins Schloss und verschmolz mit der Wand. Sie befanden sich hinter der Plattform, auf der die Scannerröhre stand. Ambrose stieg die Stufen nach oben und fuhr mit der Hand über den glatten, kühlen Stahl der geschlossenen Röhre, des Instruments, das sein Leben für immer verändert hatte.
Carpe somnium, Ambrose.
Die Rückkehr in die UniCorp-Zentrale erinnerte ihn daran, wie viel er aufgegeben hatte. Was, wenn er beschlossen hätte, Ditas Nachricht zu ignorieren?
»Hilf mir mal hiermit, Ambrose«, sagte Len, indem er ihn zu sich nach unten winkte. Doch Ambrose schlenderte weiter um die Scannerröhre, jene Maschine, die ebenso sehr sein Vater war wie Martin Truax. Die freitäglichen Produktsitzungen in Greymatter fielen ihm ein. Was seine Firma und sein soziales Netzwerk anging, war Martins Aufmerksamkeit lückenlos, bis ins kleinste Detail umfassend. Es ergab keinen Sinn, dass Len und Ambrose es so weit geschafft hatten, ohne entdeckt zu werden. Ambrose ließ den Blick
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