Carpe Somnium (German Edition)
sich auf den Rothörnchen-Mann neben Ambrose. Ineinander verkeilt wälzten sie sich auf dem Boden. Ein langes Messer blitzte auf.
Ambrose kroch hinauf in die Röhre, hielt die Klappe zwischen sich und das UniCorp-Sperrfeuer. Kurz bevor er sie schloss, sah er, wie ein grüner Impuls Len an der Schulter erwischte und ihn herumwirbelte. Ein orangeroter Stromstoß traf seinen Hals und zog sich zu wie eine glühende Schleife. Len fasste sich an die Kehle und sank auf die Knie.
Erneut schien die Zeit langsamer zu vergehen, und Ambrose dachte an die Murmel, die er vor so vielen Jahren vom Rand der Genfarm geworfen hatte, um seinen Bruder zu beeindrucken. Er sah sie jetzt, wie sie für eine endlose Millisekunde im leeren Raum zwischen Atmoscrapern rotierte, ehe sie schnurgerade und schnell durch die Wolken und außer Sicht fiel.
Er würde alles geben, wenn er zu diesem Tag zurückkehren, noch einmal lachend hinter Len herlaufen könnte, als sie dort um die Wette gerannt waren, quer über die Weide, zwischen geklonten Rindern und synthetischen Ziegen.
Als die Klappe sich schloss, traten die Geräusche des Kampfs in den Hintergrund. Unter ihm neigte sich die Metallröhre abwärts und bildete einen schmalen Tunnel. Sein Bruder hatte recht: Das hier war der einzige Ausweg.
Wie immer war Len ihm einen Schritt voraus.
11
ESCU
Es war Nacht in Eastern Seaboard City. Mistletoe stand am Rand einer vierspurigen Straße. Gelenkrahmenwagen rauschten vorüber, in jener wohlgeordneten, ununterbrochenen Prozession, die sie von all den Nachmittagen kannte, an denen sie durch die Luftlöcher hinaufgestarrt hatte. Ihr kollektives Summen war nicht viel lauter als das ferne Rattern, das durch den Sphärenschild hinab in die Subsphäre drang. Mistletoe begann, leicht zu schielen, sodass der einzelne Scheinwerfer an jedem Wagen sich in der Unschärfe mit dem des dahinterfahrenden verband und die Fahrspuren sich in durchgehende Linien aus weißem Licht verwandelten. Überall um sie herum reckten Atmoscraper sich zwischen den Verkehrsströmen in die Höhe wie mächtige Finger, die einen Handschuh durchstießen.
Sie wünschte, dass jemand bei ihr wäre, um diesen Anblick mit ihr zu teilen, doch sogar Nelson war fort. Sie fühlte sich unsagbar allein, nur nicht auf die Weise, die sie sich immer erträumt hatte. Sie sehnte sich danach, Ambroses weiche Hand zu halten. Sie stellte sich vor, dass er jetzt neben ihr stand, sie inmitten der gleißenden Streifen aus Licht eng an sich zog.
Auf der anderen Seite der Straße erhob sich der Oberstadt-Eingang zur Luftschleuse aus dem Boden, ein glatter Plexiglas-Zylinder mit einem runden schwarzen Dach und darauf einer Stange, an der eine grüne Lampe leuchtete. Vermutlich war das die Art, wie man hier oben in ESC den Leuten mitteilte, dass die Luftschleuse in Betrieb war. Aber welchen Leuten? Sie schaute sich gründlich um. Überall Autos. Nirgendwo Fußgänger.
Auf dem menschenleeren Gehsteig schlenderte sie auf den erstbesten Laden zu, an dessen Fassade, wie sie jetzt sah, eine Reihe silberner Kästen aus einer sanft glühenden Verkleidung in der Wand ragten. Jeder der Kästen war mit einem fett gedruckten
U
verziert. Über dem Ganzen schwebte ein Schild:
Geniessen Sie BetterFood
!
Das Wort
food
auch nur zu lesen ließ ein stechendes Hungergefühl in ihrem Bauch rumoren. Sie versuchte, sich zu erinnern, wie lange es her war, seit sie das letzte Mal etwas gegessen hatte. Welche Art von Oberstadt-Küche sich wohl in diesen Kästen befand? Sie untersuchte sie von allen Seiten, doch es gab keinerlei sichtbare Hinweise darauf, wie man sich etwas zu essen bestellte. Außerdem hatte sie sowieso kein Geld. Sie hatte ja nicht mal eine hartkodierte ID . Sie fragte sich, ob sie womöglich einen Alarm auslöste, wenn sie einen der Kästen öffnete.
Das nagende Hungergefühl war stärker.
Sie griff nach dem nächstbesten Kasten und erstarrte. Jemand war hinter ihr.
»Psst! Kid!«
Sie drehte sich um. Ein gelbes Taxi stand halb auf dem Gehsteig, Motor im Leerlauf. Es war kantiger als die tropfenförmigen Autos, die die meisten Oberstadteinwohner fuhren. Auf dem Fahrersitz hockte eine Gestalt, in Schatten gehüllt. Mistletoe ballte die Faust. Der Disruptor schob sich aus ihrem Ärmel.
»Was wollen Sie?«
Ihre Stimme klang laut und schneidend hier oben, wo sie nur gegen das leise Summen des Verkehrs ankommen musste. Ihr fiel auf, dass sie noch immer ihre orangerote Schutzbrille um den Hals trug, und sie
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