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Carpe Somnium (German Edition)

Carpe Somnium (German Edition)

Titel: Carpe Somnium (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andy Marino
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Auto schoss aus seinem Untergrundparkplatz senkrecht nach oben, wobei der Start so genau getimt war, dass es sich nahtlos in den untersten Verkehrsstrom einfädelte. Ambrose sank tief in seinen Sitz, während der Wagen sich der ersten Welle des Zugs der Leibhaftigen anschloss. Das hier wäre die perfekte Gelegenheit für ein Nickerchen, wenn nur sein Körper in der Lage wäre zu schlafen. Er machte die Augen zu und rieb sich seine schmerzenden Schläfen. Möglicherweise, wenn er sich einen klaren Kopf verschaffte, könnte er für eine oder zwei Minuten einschlummern. Vielleicht könnte er sogar lernen, die Wirkungen des Schlafs zu simulieren, so eine Art Selbst-Kalibrierung an sich vornehmen, um sich geistig gesund zu halten.
    Seine Hände hielten inne, als sie die Drähte fühlten. Ein Dutzend von ihnen, womöglich mehr. Sie schlängelten sich durch die Haut seines Gesichts hervor, wanden sich spiralig hinab auf seinen Schoß. Blitzartig richtete Ambrose sich auf und keuchte:
»Spiegelbild.«
    Das Fensterglas verspiegelte. Er starrte sich an, blass und abgespannt, die Hände an die Wangen gepresst.
    Da waren keine Drähte. Sein Gesicht bestand aus gewöhnlichem menschlichen Fleisch.
    Der Wagen sprang in eine Verkehrsader weiter oben. Ambrose war auf dem Weg Richtung Norden, jagte gleißend durch die New England Expansion. Er saß aufrecht, zwang sich zu tiefen, maßvollen Atemzügen und versuchte, die Kontrolle über seinen launenhaften Verstand zu behalten. Es quälte ihn der Gedanke, dass seine Zeit ablief; falls er keinen Weg fand, sich zu kalibrieren, würde die Prozedur ihn in einen sabbernden, paranoiden Irren verwandeln. Es würde schlimmer sein, als zu sterben, weil die seltenen Augenblicke der Klarheit ihn stets aufs Neue an den gesunden Menschen erinnern könnten, der er einst war. Flüchtige Andenken an einen blauen Zopf, ein subsphärisches Abenteuer, eine Freundin aus einem anderen Leben.
    Er entspiegelte das Fenster und schaute nach draußen, um sich abzulenken, blickte auf eine Kulisse aus flackernden Blitzen, durchdrungen von strahlendem Morgenlicht.
    Auf die funkelnden Dächer der halb ins Wasser hineingebauten Luxusapartment-Domes in Providence Harbor.
    Auf den gigantischen grünfassadigen Atmoscraper in Boston Heights, der die Zentrale des Fenway-Sport-Konzerns beherbergte.
    Auf die fast lächerlich kurvenreiche, aber nur spärlich befahrene Verkehrsader des Maine Corridor.
    Schließlich glitt er allein nah der kanadischen Grenze dahin, ließ die nördlichen Außenbezirke von ESC – altersschwache Lagergebäude aus Beton, die sich im Schatten plumper zehnstöckiger Apartmentbauten dicht aneinanderdrängten – als jämmerliche Flecken hinter sich zurück. Der Sicherheitswagen verlangsamte seine Fahrt längs eines dichten Kiefernwalds, dann bog er scharf nach links ab in einen von Bäumen gesäumten Pfad. Stachlige Zweige kratzten über die Fenster, als der Weg schmaler wurde und kurz darauf ganz verschwand.
    Das Auto hielt auf einer kleinen Lichtung, blinkte und stellte den Kontakt zu einem irgendwo verborgenen Empfänger her. Im Erdboden öffnete sich ein Loch, der Wagen sank hinein und setzte sanft auf. Ambrose krabbelte heraus und streckte sich. Die Öffnung über ihm schloss sich wieder, ein mattes Licht ging an.
    Er befand sich in einem unterirdischen Raum aus festgestampfter Erde. Knotige Wurzeln schlängelten sich die Wände entlang. Ein zerfledderter grüner Sessel duckte sich schlaff in eine Ecke.
    Seine ganz persönliche Flimmerhalle, tief in der Wildnis verborgen, allerdings immer noch nah genug am Maine Corridor, um sich an ein Signal anzudocken. Len hatte verstanden, dass Martin mit seinen schier unbegrenzten Ressourcen auch die leibhaftige Welt fest im Griff halten würde. Ambrose mochte Glück haben und ihm immer wieder entwischen, aber er würde dabei dennoch nichts weiter sein als eine Ratte im Labyrinth. In Unison wäre er wenigstens in der Position, um – wie hatte Len es genannt? – die Räder zum Stillstand zu bringen.
    Er setzte sich in den Sessel. Mit geschlossenen Augen dachte er an Mistletoe, fragte sich, wo sie wohl war, ob es ihr gutging. Ihm fiel ein, wie sie ihn gegen die Wand des subsphärischen Aufzugs gedrückt hatte, weil er so dumm gewesen war, ihr Viertel zu beleidigen.
    Tiefes Durchatmen. Der erdige, klamme Geruch des Raums erinnerte ihn an den Duft ihres Zopfs. Wie stechend er gewesen war, so nah an seinem Gesicht, als er hinter ihr auf diesem mickrigen

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