Carpe Somnium (German Edition)
Höllen-Scooter gehockt hatte! Falls sein Verstand tatsächlich dabei war, sich in ein ungereimtes Flickwerk von Erinnerungen und Halluzinationen aufzulösen, hoffte er, dass in einigen davon Mistletoe vorkäme. Er schlug die Handflächen aufeinander und flimmerte ein.
Seine Kehle brannte, doch er konnte nicht husten.
Er schmeckte die beißende Schärfe von Batteriesäure.
Das dämmrige Licht erlosch, und er hatte das Gefühl, sich schwebend aus dem Sessel zu heben.
Ungehemmte Freude durchströmte ihn; seine Sorgen waren weit weg und bedeutungslos. Er war zu Hause.
Er kletterte aus der Höhle und trat hinaus in den grafisch nur schlecht aufbereiteten Rand von Unisons ESC -Bitmap. Wurzeln rührten sich züngelnd zu seinen Füßen. Um ihn herum spross ein Apfelgarten. Einige der Bäume bogen und verformten sich zu sonderbaren Tischen und Stühlen. Kunstvolle, handgeschnitzte Muster erschienen in der Maserung des Holzes. Ambrose fuhr mit der Hand über die tiefen, gewundenen Schnitzereien an der Seite eines komischen, T-förmigen Stuhls. Am einen Ende des oberen Querbalkens befand sich eine kleine Klappe mit einem Griff in Gestalt einer hockenden Eule.
Sein Feed meldete:
Vorstadtbriefkasten, Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts.
Also war das hier gar kein Stuhl – es war eins dieser Uralt-Postfächer für Papierkorrespondenz. Er sah zu, wie es sich von selbst lackierte, wie der glänzende Anstrich sich von oben nach unten darüberlegte. Es war atemberaubend schön. Er hatte Möbel immer geliebt, schon seit er ein kleiner Junge war, und er hätte es nie für möglich gehalten, dass diese Liebe noch wachsen könnte. Sie war ein unauslöschlicher Teil von ihm, gehörte zu ihm wie seine Hände und Füße, sein Herz. Doch jetzt, zum ersten Mal, umgeben von all dieser Pracht, sein ganzes Wesen so voller –
Halt. Irgendwas stimmte nicht. Er griff auf sein Profil zu.
Mein Name ist Adam Trevor.
Er entspannte sich und schlenderte durch den Obstgarten, trat verspielt nach den spröden Blättern, die den federnden Weg unter seinen Füßen bedeckten. Alles stimmte. Er war Adam Trevor, und er war zu Hause. Und dennoch, etwas beunruhigte ihn, eine leise Beklemmung, so als hätte er ein Meeting verpasst.
Wo arbeitete er?
Tat er gar nicht. Das war unmöglich. Er war fünfzehn Jahre alt. Er wollte eines Tages Sänger werden, aber …
Er warf einen Blick auf das Verzeichnis seiner Freunde: Takashi Nakamura und Sonia Carter. Es war gut, Freunde zu haben. Wieso hatte er nur zwei? Das war nicht im Sinne Unisons. Na, jetzt da er zu Hause war, konnte er ja etwas Zeit darauf verwenden, neue Freundschaften zu schließen.
Er bewunderte die Lichtkleckse, die vor seinen Füßen über den laubbedeckten Pfad tanzten. Es war so friedlich hier. Er fühlte sich, als könnte er sich einfach in ein Bett aus trockenen Blättern legen und sich für immer darin zusammenrollen. Der Baumgarten wurde allmählich lichter. Ein hölzerner, mit Apfelblüten bedeckter Torbogen markierte den Rand.
Plötzlich spürte er eine Art Stich weit hinten in seinem Geist. Eine Sekunde lang war es unangenehm – wie wenn es juckt und man kann sich nicht kratzen –, doch dann meldete sein Feed:
Takashi Nakamura ist in Unison!
Der Gedanken-Stream seines Ersten Freundes blinkte auf.
Takashi Nakamura ist soeben zum Level-65-General im Saturnkriegs-Rollenspiel aufgestiegen.
Adam Trevor fühlte Takashis Genugtuung über diese Leistung. Sein Erster Freund war stolz, und sein Mitempfinden der Bruchstücke von Takashis Wohlgefühl glich dem Anblick der warmen Lichtkleckse, die durch die Bäume drangen. Heute war jeder so glücklich! Er lachte laut auf.
Am äußersten Rand des Apfelgartens blieb er stehen. Vor ihm reihten Geisterwesen sich in eine Schlange hinter einem Absperrseil aus rotem Samt. Der geballte Ansturm ihrer Gedanken-Streams traf ihn vollkommen unvorbereitet: Jeder Einzelne von ihnen waren ganz versessen darauf, sein Freund zu sein. Die Schlange endete unter dem Vordach einer imposanten backsteinernen Konzerthalle, auf dem in roten Lettern zu lesen war:
DAS UNICORP-AUDITORIUM PRÄSENTIERT:
EIN ABEND MIT ADAM TREVOR
Eigentlich ergab all das keinen Sinn, aber er glaubte, sich dunkel an das Vorsingen, das zermürbende Auswahlverfahren erinnern zu können, an die panische Angst vor der Ablehnung, an die Nächte und endlosen Stunden mit dem Gesangscoach. Er hatte sich das hier verdient, nach all der harten Arbeit. Endlich hatte er’s geschafft!
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