Carpe Somnium (German Edition)
auftauchenden Monstrum entgegenstrebten, das die makellose Unison-Sonne zu verdunkeln drohte.
»Greymatter«, sagte Ambrose.
»Hab dir doch gesagt, dass es herrlich ist!«, schrie Takashi über die Schulter und galoppierte den Hügel hinunter.
Martins Anwesen hatte die Ausmaße einer Stadt. Brandneue Anbauten wucherten zu beiden Seiten. Die aufgetürmten gläsernen Flächen und das chromglänzende Gitterwerk der modernen Atmoscraper ließen das ursprüngliche viktorianische Herrenhaus winzig erscheinen. Die Erweiterungen folgten dem Rand des Feldes, glitzernde Seitenflügel aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert umschlossen die Massen von Usern wie zwei riesenhafte Klauen.
Als die Ersten die Vorderseite des Anwesens erreichten, zerfielen ihre Körper zu Staub; monatelange Verwesung vollzog sich in einem einzigen, Übelkeit erregenden Augenblick. Aus den Überresten jedes Users züngelten in knallbunten Strängen Rohdaten hervor und verschwanden in den Wänden des Hauses.
Das Anwesen verschlang Profilinformationen.
»Ist das gut oder schlecht?«, fragte Mistletoe.
Ambroses Feed brüllte:
Herzlichen Glückwunsch! Sie wurden ausgewählt, an einem kostenlosen Testlauf von Unison 3.0 (Beta) teilzunehmen. Bitte besuchen Sie unsere Launch-Party in Greymatter!
Ambrose drehte sich zu Mistletoe um, verstummte jedoch schlagartig durch jähe, weiß glühende Blitze der Freude, die wie Dolche in seinen Gedanken-Stream fuhren. Im Bruchteil einer Sekunde komprimierte Unison den Abstand zwischen seinem eigenen Stream und denen seiner Mit-User. Plötzlich schienen sie allesamt aus derselben Quelle zu stammen, irgendwo tief im Innern seines eigenen Verstandes, wie aus einer ohrenbetäubenden Echokammer.
Lauren Jenkins liebt ihre Freunde mehr als alles andere in der ganzen Welt! : )
Julia Pittman ist jetzt ein Fan von Adam Trevor.
Oscar Ward denkt, dass der Sinn des Lebens Entspannung heißt und man einfach alles GENIESSEN soll!
Chris Riley fragt sich, warum er so lange gebraucht hat, um zu begreifen, wie einfach es ist, glücklich zu sein.
Mark Sullivan ; ) ; ) ; ) ; ) ; )
Millionen von vollständigen, detaillierten Profilen fluteten jetzt in seinen Feed. Und sie alle luden ihn zu demselben Ereignis ein: zur Launch-Party in Greymatter.
Sie würde ein gigantischer Spaß werden.
Vielleicht könnte er für all seine neuen Freunde sogar ein paar Songs spielen.
Er lief los, den Hügel hinab. Jemand zerrte an seinem Ärmel: das Mädchen aus dem Konzertsaal. Sie hatte ihn vor seiner Show beim Einsingen gestört, und jetzt versuchte sie, ihn davon abzuhalten, auf die Launch-Party zu gehen. Er riss sich von ihr los – durchgeknallte Stalkerin! – und wollte ihr gerade sagen, sie solle ihn gefälligst in Ruhe lassen, da zuckte ihr ganzer Körper plötzlich zurück, so als hätte sie versehentlich ein Messer fallen lassen und wiche nun aus, damit es ihr nicht auf den Fuß fiel. Ihr Blick wurde leer und ausdruckslos. Ihr Unterkiefer klappte herunter. Dann verzerrte sie sich zu einem Störbild, flackerte kurz und existierte nicht mehr.
Kein großer Verlust. Sie war ohnehin nicht sein Freund gewesen.
Er gesellte sich zu den Usern auf dem Feld und spazierte auf das Anwesen zu, pfiff ein fröhliches Liedchen und genoss das Gefühl der Sonne auf seinem Gesicht.
13
Überlebende
Finsternis umhüllte sie. Der Röhrendeckel glitt auf. Lampenlicht gleißte herein. Sie blinzelte. Der Schattenriss eines Mannes beugte sich vor die Lampe und blockierte deren sonnenhelle Mitte, jedoch nicht das Gleißen. Ihre Augen passten sich an. Die messerscharfen Kanten eines adretten Anzugs und einer Krawatte tauchten hinab in die dunkle Kammer, dann verschwand der Schattenriss. Die helle Kugel aus Licht erschien wieder.
Außerhalb ihres Sichtfelds hörte sie Männer in gedämpftem Ton miteinander reden, ab und zu unterbrochen durch ein nasses
Tnack
. Sie spürte, wie sie mit einem leisen mechanischen
Whirrrr
nach vorn kippte, und nahm jetzt allmählich wahr, dass sie sich in einem Raum voller länglicher Metallröhren befand. Die Röhre ihr gegenüber stand senkrecht und war offen. Darin wand sich ein winziges Baby, ein Junge, aus dessen Kopf lange Drähte ragten. Er richtete seinen Blick auf sie und erstarrte. Sie versuchte zu winken, doch ihre Arme waren festgeschnallt. Stattdessen brabbelte sie eine Begrüßung, so gut sie es vermochte. Er blinzelte und bewegte die Lippen.
Noch einmal:
Tnack
.
Sie folgte dem Geräusch mit den Augen an
Weitere Kostenlose Bücher