Carpe Somnium (German Edition)
der Röhre des anderen Babys vorbei in den hinteren Teil des Raums, wo zwei Männer in weißen Laborkitteln und ein dritter Mann – der, der eben kurz zu ihr hereingeschaut hatte – sich über einen langen Tisch beugten und immer wieder einen fleischigen Haufen anstießen. Der dritte Mann richtete sich auf und sagte etwas zu den beiden anderen, dann hob er den Haufen hoch. Von dem schlaffen Etwas hingen silbrige Drähte herab. Kurz darauf ein winziger Arm.
Es war ein Baby – genau wie sie und der Junge in der Röhre vor ihr. Bloß dass es sich nicht bewegte. Der dritte Mann hielt das Körperchen ruhig in der einen Hand, während er mit der anderen einen der Drähte schnappte und ihn ins Licht hielt. Er drehte und wendete ihn, betrachtete ihn aus jedem Winkel. Er schüttelte den Kopf. Die beiden Männer in den Laborkitteln standen regungslos da, als der dritte Mann das Baby in einen durchsichtigen, zylindrischen Tank schleuderte. Darin trieben in einer grünen Flüssigkeit leblos die Körper von einem Dutzend weiterer Babys umher, und ihre Drähte schlängelten sich umeinander, an der Oberfläche gehalten von einer leichten Strömung.
Mit einem nassen
Tnack
verdrängte das Baby ein anderes.
Sie ließ ihren hilflosen Blick zu dem Jungen vor ihr hinüberwandern, der ihn mit offen stehendem Mund starr erwiderte, während ein zäher Speichelfaden von seiner Unterlippe baumelte.
»Gahh«, sagte er.
Sie versuchte, auf die Männer zu zeigen, doch sie konnte sich nicht bewegen, und er vermochte sich ohnehin nicht umzudrehen, um zu sehen, was geschah.
Stattdessen schrie sie.
Die Szenerie wich ans Ende eines langen Tunnels zurück und löste sich auf. Dann schoss alles erneut auf sie zu und verwandelte sich in Professor Deirdre O’Hanlons hohe, blasse Stirn und weit aufgerissene grüne Augen, nur wenige Zentimeter vor ihren eigenen.
Mistletoe versuchte, sich zu bewegen. Ihre Arme schienen noch immer gefesselt. Wie war das möglich? Die weißen Wände und roten Stühle des spartanischen ESCU -Büros tauchten am Rand ihres Blickfelds auf.
»Ambrose!«, schrie Mistletoe und kämpfte gegen die bleierne Kraft, die ihre Handgelenke niederdrückte. »Geh nicht da runter!« Ihre Schläfen fühlten sich heiß und schweißnass an.
»Beruhige dich«, sagte Deirdre. »Er kann dich nicht hören. Du bist wieder bei mir.«
Professor O’Hanlon verstärkte ihren Griff und presste Mistletoes Hände gegen ihre Schläfen, bis ihr der Kopf schmerzte.
Sie war ausgeloggt worden.
Mistletoe riss sich los. »Bringen Sie mich wieder rein.«
»Kann ich nicht. Sie sind hier.« Deirdre drehte die Handfläche nach oben. Eine Projektion der Lobby des ESCU -Gebäudes erschien. UniCorp-Sicherheits-Mitarbeiter säumten die beiden Verbindungsstege über dem Glaskasten, zielten mit ihren Disruptoren nach unten in raschen, eleganten Schwüngen. Im Erdgeschoss überprüfte ein zweites Team eine Reihe von Studenten, deren projizierte ESCU-ID -Kugeln glitzernd über ihren nach oben gekehrten Handflächen schwebten.
»Bilder der Überwachungskameras«, sagte Deirdre.
Mistletoe betrachtete das tonlose Video, wo jetzt zu sehen war, wie ein Student vortrat und seine ID -Projektion verschwinden ließ. Er schrie dem ihm am nächsten stehenden Sicherheits-Mann etwas entgegen, sein wutverzerrter Mund bewegte sich stumm. Keine Sekunde später traf ihn ein schneller Stoß mit dem stumpfen Ende eines Disruptors an der Schläfe. Der Junge sackte zu Boden, seltsam verkrümmt. Neben ihm stand das rothaarige Mädchen, das Mistletoe Schokolade und Wegbeschreibung gegeben hatte, und zeigte seine ID . Ein anderer Sicherheits-Mitarbeiter fuhr mit der Hand durch die schillernde Kugel, dann ging er weiter die Reihe entlang.
Mistletoe spürte das Gewicht ihres eigenen Disruptors um ihren Unterarm, verborgen unter ihrem Ärmel. Mühsam widerstand sie dem Drang, die Faust zu ballen, die Waffe zu entsichern und schießwütig aus der Bürotür zu stürmen.
Sucht ihr mich, Jungs?
Ein weiterer Trupp Sicherheits-Leute trat ins Sichtfeld, verteilte sich entlang den Rändern des Raums und bezog mit je zwei Mann Stellung vor den Türen der Professorenbüros.
Deirdre schloss die Anzeige und zog einen bauchigen schlammbraunen Matchbeutel hinter ihrem Stuhl hervor.
»Hab mir schon gedacht, dass das eines Tages passieren würde«, sagte sie und wischte die orangefarbenen Gläser und losen Kapseln aus der rechteckigen Wandöffnung in die Tasche.
»Mir ist niemand hierher
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