Carpe Somnium (German Edition)
der ESCU ? Wie hast du’s nach oben geschafft?«
»Ich kenn da ’nen Jungen …« Sie verstummte, so als würde sie auf eine Reaktion warten. Ambrose wusste nicht recht, was er sagen sollte.
»Ah.«
»Der hat mir gezeigt, wie ich die Luftschleuse umgehen kann. Und dann hat Deirdre mir mit dem Log-in geholfen.«
»Implantat.« Er tippte sich auf die Handfläche.
Sie schüttelte den Kopf. »Schön wär’s. Ich musste ’ne riesige Pille voller Käfer schlucken.«
Erklärt, wieso das Netz dich nicht erfasst
, dachte er. »Hast du überhaupt ’ne Ahnung, wie verbloggt gefährlich das ist?« Der Subsphären-Slang ging ihm so glatt über die Lippen, als wäre er damit aufgewachsen. »Irgend so ’n Hinterhof-Biotech-Log-in zu schlucken? Diese Käfer krabbeln jetzt durch dein
Gehirn
. Das kannst du echt nicht bringen. Ich will dich nicht –« Er hielt inne.
»Willst mich, was nicht?«
»Ich will dich nicht wieder verlieren.«
Trotz des chaotischen Zustands seiner derzeitigen Hirnfunktionen war er sich dieser einen Wahrheit ganz sicher. Er spürte den überwältigenden Drang, seinen Finger seitlich an ihren Hals zu legen, um ihren Puls zu fühlen und zugleich die Zartheit ihrer Haut. Echte Haut, Unison-Haut, es spielte keine Rolle.
Sie schien beinahe sprachlos.
»Ambrose«, sagte sie, »noch nie hat …« Zum ersten Mal, seit sie sich in Little Saigon begegnet waren, ließ sie ihren subsphärischen Straßenpanzer fallen. »Ich hab noch nie …« Ihr Lächeln wirkte traurig und auf seltsame Weise sehr alt. Sie versuchte es noch einmal. »Ich wünschte, ich hätte dich vor all dem hier gekannt.«
Sein Herz klopfte wild. Und dann knisterte sein Gedanken-Stream:
Takashi Nakamura freut sich wahnsinnig, seinen Freund heute Abend singen zu sehen!
Er konnte Takashis Anwesenheit förmlich über seine Haut kriechen fühlen, so erstickend gut gelaunt wie ein Patient mit einer Überdosis Medikamente.
»O nein«, sagte er. »Mach dich auf was gefasst.«
Takashi stürmte in die Lichtung, rotgesichtig und ganz außer Atem. Ambrose wartete darauf, dass er ihren merkwürdigen und plötzlichen Abschied im Amphitheater erwähnte. Sein Erster Freund gestikulierte wild in Richtung einer Lücke zwischen den Bäumen.
»Wieso versteckst du dich denn, Adam? Hast du das da draußen nicht gesehen? Es ist herrlich!« Sein Stimmungsschatten schlang zappelnde orangerote Ranken um seine Beine und Taille.
»Igitt«, sagte Mistletoe und machte einen Schritt rückwärts.
»Nett, dich kennenzulernen!«, sagte Takashi.
Sie brachte ein zaghaftes »Hi« zustande und beäugte angeekelt die sich windenden Tentakel des Stimmungsschattens.
Takashi Nakamura ist 01101000011011110110110101100101.
Ambrose wedelte mit seiner Hand vor dem Gesicht seines Freundes herum. »Ähm, Takashi?«
Takashi schaute geradewegs durch Ambrose hindurch zur anderen Seite der Lichtung. Dann kicherte er abwesend. »Ist dir je … ist dir je aufgefallen, wie perfekt all diese Ebenen der Welt zueinanderpassen? Und dass sie das
absolut gleichzeitig
für all deine Freunde und für dich tun? Es ist, als wärst du das nanomäßigste aller Nanoteilchen, okay?« Er presste Daumen und Zeigefinger zusammen, um die Winzigkeit zu demonstrieren. »Und eigentlich bist du bloß dazu da, diese eine Funktion auszuführen – hin und her oder hoch und runter –, aber gleichzeitig bist du auch dieses« – er fuchtelte mit den Armen, hatte Mühe, die segensreiche Erkenntnis zu vermitteln, die sich in seinem Hirn breitmachte –, »dieses
Feuerrad der Freundschaft
!«, verkündete er schließlich triumphierend.
Ambrose zeigte auf den Stimmungsschatten, der auf Takashis tiefe Glückseligkeit reagierte, indem er sich seinen Brustkorb hinaufrankte und sich um seinen Hals wickelte.
»Ist das da so vorgesehen? Ich meine, bist du …«
»Ich bin endlich
ich
, Adam! Ich bin alles, was ich je sein wollte.«
Skeptisch folgten sie Takashi durch die Bäume und hinaus ins Sonnenlicht. Vom Fuß des Hügels an erstreckte sich ein gigantisches Feld bis hinüber zur dunstigen Skyline der ESC -Bitmap. Millionen von Usern tummelten sich auf dem Areal, streiften in Gruppen umher und aneinander vorbei wie dicht gedrängte Schwärme von Fischen, was Ambrose das beunruhigende Gefühl gab, auf den Grund eines wasserlosen Meeres zu blicken. Ein paar Minuten lang war er sprachlos, dann erst wurde ihm klar, dass die User sich auf ein Ziel zubewegten, in einer Art Sog langsam einem schemenhaft
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