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Carre, John le

Carre, John le

Titel: Carre, John le Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Krieg im Spiegel (Smiley Bd 4)
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das Kreuzworträtsel
war gelöst. Rundherum waren auf den Rand verstreut die Abwandlungen eines aus
neun Buchstaben bestehenden Anagrammes gekritzelt. Verwirrt zeigte Leiser seine
Entdeckung Avery. »Er liest sie nicht«, sagte er. »Er löst nur das Kreuzworträtsel.«
    Als sie an
diesem Abend zu Bett gingen, nahm Leiser verstohlen die Zeitung mit sich, als
enthielte sie irgendein Geheimnis, das man durch sorgfältige Prüfung
enthüllen könnte.
    Soweit
Avery es beurteilen konnte, war Haldane von Leisers Fortschritten befriedigt.
Im Verlauf der vielfältigen Übungen, zu denen Leiser jetzt angehalten wurde,
hatten sie ihn eingehender beobachten können.
    Mit der
Fähigkeit der Schwachen, scharf zu beobachten, spürten sie seine Fehler auf
und schätzten seine Stärke ein. Im gleichen Maß, in dem sie sein Vertrauen
gewannen, begann er zunehmend eine entwaffnende Offenheit zu zeigen. Er liebte
vertrauliche Gespräche. Er war ihr Geschöpf und gab ihnen alles - und sie
bewahrten alles sorgfältig auf, wie es die Armen tun. Sie sahen, daß seine
überschüssigen Kräfte durch die Organisation plötzlich ein Ziel bekommen
hatten: Leiser hatte wie ein Mann mit ungewöhnlicher Geschlechtsgier in seiner
neuen Tätigkeit das Objekt einer Hingabe gefunden, die er durch Entwicklung besonderer
Fähigkeiten zu beweisen suchte. Er schien Gefallen daran zu finden, von ihnen
Befehle zu erhalten, und er gab ihnen dafür seine Stärke als Unterpfand für
seinen Gehorsam. Vielleicht war es ihnen sogar bewußt, daß Leiser in ihnen die
Pole einer absoluten Autorität erblickte: der eine durch sein verbittertes
Festhalten an Maßstäben, denen Leiser niemals gerecht werden konnte-, der
andere durch seine jugendliche Zugänglichkeit und den Reiz und die Verläßlichkeit
seines Wesens.
    Leiser
unterhielt sich gerne mit Avery. Er sprach über seine Freundinnen oder den
Krieg. Er nahm an - und Avery fand das irritierend, aber weiter nichts -, daß
ein Mann Mitte Dreißig - ob er nun verheiratet war oder nicht - natürlich ein
intensives und abwechslungsreiches Liebesleben hatte. Später dann, am Abend,
wenn die beiden ihre Mäntel angezogen hatten und zu der Kneipe am Ende der
Straße hinuntergelaufen waren, pflegte er seine Ellbogen auf den kleinen Tisch
zu stützen, sich vorzubeugen und von seinen Eroberungen bis in die kleinsten
Einzelheiten zu berichten. Seine Hand ruhte dabei an seinem Kinn, und die
schlanken Spitzen seiner Finger öffneten und schlossen sich in einer unbewußten
Nachahmung der Bewegungen seiner Lippen. Er handelte nicht aus Eitelkeit, sondern
aus Freundschaft. Diese Vertraulichkeiten und Geständnisse wahr oder erfunden
- stellten die einfache Münze dar, mit der sie einander ihre Freundschaft
vergalten. Betty wurde dabei von Leiser niemals erwähnt.
    Allmählich
lernte Avery das Gesicht Leisers mit einer Genauigkeit kennen, die nicht mehr
von seinem Erinnerungsvermögen abhing. Er bemerkte, wie sich die Züge Leisers
seinen Stimmungen entsprechend veränderten, wie sich Depression oder Müdigkeit
am Ende eines langen Tages in der Spannung der Haut über seinen Backenknochen
ausdrückten, durch die Augen und Mund an ihren Winkeln aufwärts gezogen wurden,
so daß sein Ausdruck plötzlich noch slawischer wurde und an Vertrautheit
verlor.
    Leiser
hatte von seinen Nachbarn oder von seinen Kunden gewisse Wendungen
aufgeschnappt, die zwar völlig sinnlos waren, aber sein fremdes Ohr doch beeindruckt
hatten. Er konnte zum Beispiel von »einem gewissen Maß der Befriedigung«
sprechen, indem er eine unpersönliche Wendung gebrauchte, die ihm irgendwie
würdiger schien. Er hatte sich auch eine Reihe von Klischees angeeignet.
Dauernd wiederholte er Ausdrücke wie >nur keine Bange<, >mach keinen
Wind<, >die Katze aus dem Sack lassen<, und es schien, als bemühe er
sich damit um eine Lebensart, die er nur unvollständig verstand, in die er sich
aber mit derartigen Zauberformeln hineinschwindeln wollte. Einige dieser
Ausdrücke waren nicht mehr modern, wie Avery bemerkte.
    Ein- oder
zweimal hatte Avery den Verdacht, daß Haldane sein enges Verhältnis zu Leiser
mißbilligte. Dann wieder schien es so, als hätte Haldane in Avery Gefühle
entfaltet, über die er selbst keine Kontrolle mehr hatte. Eines Abends, am
Anfang der zweiten Woche, während Leiser sich jener zeitraubenden Körperpflege
widmete, die bei ihm fast jeder Feierabendbeschäftigung vorauszugehen pflegte,
erkundigte sich Avery bei Haldane, ob er nicht auch selbst

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