Carte Blanche - Ein Bond-Roman
schaute zu der Digitaluhr an der Wand, die eine Minute weitersprang.
In York war es neun Uhr vierzig.
56
Bond schlenderte mit der Killing-Fields-Karte zwanglos einen Flur hinunter.
Ein Wachposten mit massigem rundem Schädel beäugte ihn misstrauisch. Der Mann war unbewaffnet, und ein Funkgerät hatte er auch nicht, stellte Bond zu seiner Enttäuschung fest. Er fragte den Posten nach Hydts Konferenzraum. Der Mann beschrieb ihm den Weg.
Bond machte ein paar Schritte und wandte sich dann um, als sei ihm gerade etwas eingefallen. »Ach, ich muss Miss Barnes noch etwas fragen. Wissen Sie, wo sie ist?«
Der Posten zögerte und wies dann auf einen anderen Korridor. »Ihr Büro ist da hinten. Die Doppeltür links. Nummer eins null acht. Bitte erst anklopfen.«
Bond ging in die bezeichnete Richtung. Wenig später erreichte er die Tür und blickte über die Schulter. Der Gang war menschenleer. Er klopfte. »Jessica, hier Gene. Ich muss mit Ihnen sprechen.«
Keine Reaktion. Sie hatte zwar gesagt, sie würde hier sein, aber vielleicht fühlte sie sich nicht wohl oder war zu müde gewesen, um herzukommen, ungeachtet ihrer »kurzen Leine«.
Dann klickte das Schloss. Die Tür ging auf, und er trat ein. Jessica Barnes war allein und sichtlich überrascht. »Gene. Was ist denn los?«
Er schloss die Tür. Sein Blick fiel auf ihr Mobiltelefon, das auf dem Schreibtisch lag.
Sie spürte sofort, was gerade passierte. Mit weit aufgerissenen dunklen Augen ging sie zum Schreibtisch, schnappte sich das Mobiltelefon und wich vor Bond zurück. »Sie …« Sie schüttelte den Kopf. »Sie sind Polizist. Sie sind hinter ihm her. Ich hätte es wissen müssen.«
»Hören Sie mir zu.«
»Oh, jetzt verstehe ich. Gestern, im Auto … Sie haben, wie sagt man? Mich weich geklopft? Um mein Vertrauen zu erschleichen?«
»Severan wird in einer Dreiviertelstunde einen Massenmord begehen«, sagte Bond.
»Unmöglich.«
»Es stimmt. Tausende von Leben stehen auf dem Spiel. Er wird eine englische Universität in die Luft sprengen.«
»Ich glaube Ihnen nicht! Er würde so etwas niemals tun.« Aber sie klang nicht überzeugt. Wahrscheinlich hatte sie schon zu viele von Hydts Fotos gesehen, um abstreiten zu können, wie sehr er auf Tod und Zerstörung fixiert war.
»Er verkauft Geheimnisse und erpresst und ermordet Leute, nachdem er ihren Abfall auf verwertbares Material überprüft hat«, sagte Bond. Er trat vor und streckte die Hand nach dem Telefon aus. »Bitte.«
Sie wich weiter zurück und schüttelte den Kopf. Vor dem offenen Fenster gab es eine große Pfütze. Sie hielt das Telefon darüber. »Stopp!«
Bond gehorchte. »Mir läuft die Zeit weg. Bitte helfen Sie mir.«
Es verstrichen einige endlose Sekunden. Schließlich sackten ihre schmalen Schultern herab. »Er hat eine dunkle Seite«, sagte sie. »Erst dachte ich, es geht dabei nur um Bilder von … nun ja, schreckliche Bilder. Seine kranke Vorliebe für den Zerfall. Aber dann kam mir der Verdacht, dass noch mehr dahinterstecken könnte. Etwas Schlimmeres. Tief im Innern möchte er nicht nur ein Zeuge der Zerstörung sein. Er will sie verursachen .« Sie entfernte sich von dem Fenster und gab ihm das Telefon.
Er nahm es. »Danke.«
In diesem Moment flog die Tür auf. Der Wachposten, der Bond den Weg gewiesen hatte, stand im Eingang. »Was ist hier los? Besuchern sind hier keine Telefone gestattet.«
»Es gibt bei mir zu Hause einen familiären Notfall«, sagte Bond. »Jemand ist schwer erkrankt, und ich wollte mich nach seinem Befinden erkundigen. Miss Barnes war so freundlich, mir ihr Mobiltelefon zu leihen.«
»Das stimmt«, bestätigte sie.
»Nun, ich schätze, ich werde es lieber an mich nehmen.«
»Das glaube ich kaum«, erwiderte Bond.
Einen Augenblick lang herrschte angespannte Stille. Dann stürzte der Mann sich auf Bond, der das Telefon auf den Schreibtisch warf und eine Systema -Verteidigungshaltung einnahm. Der Kampf begann.
Der Posten war zwanzig oder fünfundzwanzig Kilo schwerer als Bond, und er war begabt – sehr begabt. Er hatte Kickboxen und Aikido trainiert. Bond konnte seinen Angriffen ausweichen, aber es war sehr kraftraubend und zudem schwierig, weil der eigentlich große Raum voller Mobiliar stand. An einem Punkt wich der massige Wachposten schnell zurück und prallte gegen Jessica, die aufschrie, hinfiel und benommen liegen blieb.
Der erbitterte Kampf dauerte nun etwa eine Minute. Bond erkannte, dass es mit Ausweichen nicht getan sein würde. Sein
Weitere Kostenlose Bücher