Carte Blanche - Ein Bond-Roman
saßen und mit den unterschiedlichsten Mienen auf seine leidenschaftslose Botschaft reagierten. »Der Kampf gegen das Böse macht es bisweilen erforderlich, über landläufige Moralvorstellungen hinwegzusehen.«
Sein Vater ein Spion?, hatte Bond gedacht. Unmöglich. Absurd.
Trotzdem hatte er nach seiner Abreise aus Fort Monckton eine Weile in der Vergangenheit seines Vaters herumgestochert, aber keine Hinweise auf eine verdeckte Existenz finden können. Der einzige Anhaltspunkt war eine Reihe von Zahlungen an seine Tante für ihren und James’ Unterhalt, die über den Ertrag der Versicherungspolice seiner Eltern hinausgingen. Das Geld kam einmal im Jahr, bis James achtzehn Jahre alt war, und von einer Firma, die irgendwie mit Andrews Arbeitgeber zusammenhängen musste, wenngleich James nie herausfinden konnte, wo genau sie ihren Sitz gehabt hatte oder was der Anlass für die Zahlungen gewesen war.
Am Ende überzeugte er sich davon, dass die ganze Idee völlig verrückt sei, und vergaß die Angelegenheit.
Bis zu dem russischen Rapport über Steel Cartridge.
Denn ein anderer Aspekt im Zusammenhang mit dem Tod seiner Eltern war weitgehend übersehen worden.
Im Unfallbericht der Gendarmerie stand, dass in der Nähe des Leichnams seines Vaters eine stählerne Gewehrpatrone, Kaliber 7,62 Millimeter, gefunden worden sei.
Der kleine James hatte sie mit der Habe seiner Eltern erhalten. Da Andrew für einen Rüstungskonzern tätig gewesen war, hatte man die Patrone für eine Warenprobe gehalten, die er für seine Kunden mit sich geführt haben konnte.
Nachdem Bond vor zwei Tagen den Rapport gelesen hatte, hatte er die Onlinearchive der Firma seines Vaters durchforstet und herausgefunden, dass sie gar keine Munition herstellte. Und sie hatte auch nie Waffen verkauft, die dieses Kaliber verfeuerten.
Die besagte Patrone lag nun in der Mitte des Kaminsimses seiner Londoner Wohnung.
Hatte ein Jäger sie in den Bergen verloren? Oder war sie dort absichtlich zur Warnung hinterlassen worden?
Die Erwähnung der Operation Steel Cartridge in einer Datei des KGB hatte bei Bond den Wunsch verstärkt, endlich in Erfahrung zu bringen, ob sein Vater ein Geheimagent gewesen war. Er musste es wissen. Dabei spielte es keine Rolle, ob sein Vater ihn angelogen hatte. Alle Eltern belügen ihre Kinder. In den meisten Fällen geschieht dies jedoch aus Hilflosigkeit oder auch aus Trägheit oder Unbekümmertheit; falls sein Vater gelogen hatte, dann jedoch, weil der Official Secrets Act ihn dazu zwang.
Und es ging für Bond auch nicht darum – wie ein Fernsehpsychiater es vielleicht wortreich darlegen würde –, durch Kenntnis der Wahrheit den Verlust seiner Eltern aus anderem Blickwinkel betrachten und dann irgendwie authentischer trauern zu können. Was für ein Blödsinn.
Nein, er wollte die Wahrheit aus einem sehr viel einfacheren Grund wissen, der ihm passte wie ein Maßanzug aus der Savile Row: Die Person, die seine Eltern getötet hatte, lief womöglich irgendwo auf der Welt frei herum, genoss den Sonnenschein und gutes Essen oder war sogar immer noch im Mordgeschäft tätig. Falls das der Fall war, würde Bond dafür sorgen, dass die betreffende Person das Schicksal seiner Eltern erlitt, und er würde dabei effizient und im Einklang mit seiner offiziellen Tätigkeitsbeschreibung vorgehen: unter Einsatz aller erforderlichen Mittel.
40
Um kurz vor siebzehn Uhr am Mittwoch ertönte aus Bonds Mobiltelefon der Klingelton, der für Nachrichten mit besonderer Dringlichkeit reserviert war. Er eilte aus dem Badezimmer, wo er gerade geduscht hatte, und las die verschlüsselte E-Mail. Sie stammte vom GCHQ und meldete, dass Bonds Versuch, Severan Hydt zu verwanzen, halbwegs erfolgreich gewesen war. Captain Bheka Jordaan wusste nichts davon, aber der USB -Stick mit den Digitalfotos der afrikanischen Killing Fields, den Bond an Hydt weitergegeben hatte, enthielt außerdem ein kleines Mikrofon samt Sender. Die Tonqualität und die Batterielebensdauer ließen zwar zu wünschen übrig, aber dafür stimmte die Reichweite. Das Signal wurde von einem Satelliten aufgefangen, verstärkt und an eine der riesigen Empfangsantennen des Stützpunkts Menwith Hill abgestrahlt, gelegen im schönen ländlichen Yorkshire.
Die Wanze hatte Fragmente eines Gesprächs zwischen Hydt und Dunne übermittelt, geführt gleich nach dem Verlassen der vermeintlichen Geschäftsräume von EJT Services im Zentrum von Kapstadt. Die Worte waren endlich entschlüsselt und
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