Carte Blanche - Ein Bond-Roman
getötet.
James Bonds Vater war zu jener Zeit ums Leben gekommen.
Es war im Dezember geschehen, nicht lange nach James’ elftem Geburtstag. Andrew und Monique Bond hatten den kleinen James bei seiner Tante Charmian in Pett Bottom in der Grafschaft Kent abgesetzt und versprochen, dass sie rechtzeitig vor den Weihnachtstagen zurück sein würden. Dann waren sie in die Schweiz geflogen und zum Montblanc gefahren, um dort fünf Tage auf den Skipisten und beim Fels- und Eisklettern zu verbringen.
Doch seine Eltern konnten ihr Versprechen nicht halten, denn zwei Tage später waren sie tot. Sie waren an einer der erstaunlich schönen Steilwände der Aiguilles Rouges in der Nähe von Chamonix abgestürzt.
Wunderschöne Felswände, ja, beeindruckend … aber nicht übermäßig gefährlich, jedenfalls nicht am Ort des Absturzes. Als Erwachsener hatte Bond sich die näheren Umstände des Unfalls angesehen und erfahren, dass die Wand, aus der sie gestürzt waren, keine fortgeschrittenen Kletterkenntnisse erforderte; vorher war dort noch nie jemand verletzt worden, geschweige denn ums Leben gekommen. Doch Berge sind bekanntermaßen launisch, und Bond hatte geglaubt, was seiner Tante von den Gendarmen mitgeteilt worden war: dass seine Eltern abgestürzt seien, weil ein Seil im selben Moment gerissen war, in dem ein großer Felsblock sich löste.
»Mademoiselle, je suis désolé de vous dire …«
Als Kind hatte James Bond viel Spaß daran gehabt, mit seinen Eltern in die fremden Länder zu reisen, in die Andrew Bond von seiner Firma geschickt wurde. Es hatte ihm gefallen, in Hotelsuiten zu wohnen. Er hatte die fremde Küche genossen, die sich sehr von dem Essen unterschied, das in den englischen und schottischen Pubs und Restaurants serviert wurde. Er war von den exotischen Kulturen fasziniert gewesen – der Kleidung, der Musik, der Sprache.
Es hatte ihm außerdem gefallen, Zeit mit seinem Vater zu verbringen. Seine Mutter ließ James in der Obhut von Aufpassern oder Freunden, wenn einer ihrer Fototermine anstand, aber sein Vater nahm ihn gelegentlich zu Geschäftsbesprechungen in Restaurants oder Hotellobbys mit. Der Junge wartete dann in der Nähe mit einem Buch von Tolkien oder einem amerikanischen Krimi, während sein Vater mit ernsten Männern namens Sam oder Micah oder Juan redete.
James war froh gewesen, dabei zu sein – welcher Sohn mochte es nicht, mit seinem Dad herumzuhängen? Er hatte sich aber immer gefragt, wieso Andrew manchmal geradezu darauf bestand, dass er ihn begleitete, und es ihm manch anderes Mal ebenso entschieden verweigerte.
Bond hatte sich letztlich nichts dabei gedacht … bis zu seiner Ausbildung in Fort Monckton.
Dort in den Kursen über verdeckte Operationen hatte einer der Ausbilder, ein rundlicher Brillenträger vom MI6 , etwas gesagt, das Bond aufmerken ließ: »In den meisten Fällen ist es nicht ratsam, dass ein Agent oder Mitarbeiter seine Frau oder seine Kinder im Einsatz bei sich hat. Falls es sich nicht vermeiden lässt, sollte die Familie möglichst keinerlei Kontakt zur verdeckten Tätigkeit des Agenten bekommen. Es gibt jedoch eine Ausnahme, bei der es von Vorteil ist, ein vermeintlich ›typisches‹ Leben zu führen. Diese Agenten operieren autonom und werden mit den kritischsten Aufgaben betraut, deren Erfolg von entscheidender Bedeutung ist. In diesen Fällen dient das Familienleben dazu, den Gegner zu täuschen und seinen Argwohn zu beschwichtigen. Die jeweilige Tarnidentität ist für gewöhnlich in einer Branche oder bei einer Organisation beschäftigt, die für feindliche Agenten von Interesse ist: Infrastruktur, Information, Rüstung, Raumfahrt oder Regierung. Der Mitarbeiter wird alle paar Jahre an einen anderen Ort versetzt und nimmt seine Familie mit.«
James Bonds Vater hatte für einen großen britischen Rüstungskonzern gearbeitet und war in mehrere Hauptstädte der Welt versetzt worden. Seine Frau und sein Sohn hatten ihn begleitet.
Der Ausbilder hatte weiter ausgeführt: »Und unter gewissen Umständen, bei den riskantesten Aufträgen – ob nun bei einer anonymen Materialübergabe oder einem persönlichen Treffen – kann es nützlich sein, wenn der Agent sein Kind mitnimmt. Nichts wirkt unschuldiger als ein kleiner Junge oder ein kleines Mädchen. Beim Anblick des Kindes wird der Feind so gut wie immer auf die Tarnung hereinfallen – denn kein Elternteil würde sein Kind in Gefahr bringen wollen!« Er musterte die Agenten, die vor ihm im Unterrichtsraum
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