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Caruso singt nicht mehr

Titel: Caruso singt nicht mehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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gutherzige Frau von Gottfried. Ortsvorsteher Wilhelm widersprach. »Da kannst du gar nichts machen, des Menschen Wille ist sein Himmelreich, und my home is my castle. Die haben noch nicht einmal die Gemeindeschwester reingelassen.«
    Paul streichelte den Alten Fritz, Gottfrieds Jagdhund – »ein reinrassiger Weimaraner«, wie Gottfried gern betonte –, der seinen schönen samtgrauen Kopf auf Pauls Knie gelegt hatte und ergeben zu ihm hoch schaute. Von wegen dörfliche Gemeinschaft, nachbarschaftliche Solidarität und was die Städter noch so alles hineinphantasieren in die angeblich heile Welt auf dem Dorf, dachte er. Soziale Kontrolle verhindert höchstens das Allerschlimmste. Und das auch nicht immer.
    Die Verunsicherung war mit Händen zu greifen. Daß der alte Noth, wie Wilhelm erzählte, halbnackt und auf dem Boden liegend gefunden worden war, ganz kalt und steif schon, war seinen Nachbarn nur ein vorerst letzter Beweis für den Zerfall aller Werte, die man hier hochhielt. Irgend etwas lief schief. Aber was?
    Paul dankte Gottfried für die zehn Eier – Zwerghuhneier, aber von garantiert glücklichen Tieren – und ging nach Hause. Erst ein bißchen Holzhacken. Das lenkte ab. Und dann gab es keinen Grund mehr, sich länger vor der Arbeit zu drücken.
     
    »Was würde über den heutigen Tag in meinem Tagebuch stehen?«, dachte Bremer, der aus guten Gründen keines schrieb, wenige Stunden später. »Katzen gefüttert. Rad gefahren. Depression gekriegt.« Er spürte, wie ihn die Stimmung im Dorf einzufangen begann. Wie das Wetter: tief gehängtes Grau, düster. Mißtrauen hatte sich über alles gelegt, durchdringend wie der Schweinegestank, der aus dem Stall von Bauer Knöß herüberwehte. Selbst die Alltagsgeräusche – und das Landleben ist laut! – kamen Bremer heute merkwürdig gedämpft vor. Normalerweise dröhnten hier die Trecker, jaulten die Hunde, röchelten die Hähne. Ständig rief jemand: nach Kevin und Carmen, die auf nichts und niemanden hörten. Nach dem Riesenbernhardiner Bello, für den das ebenfalls galt.
    Wenigstens das in Pauls Ohren schönste Geräusch unter all den vielfältigen Landlauten näherte sich auch heute wieder vom Friedhof her. Es klang wie das vielstimmige Knacken dünner, dürrer, trockener Hölzer, begleitet von sattem Klatschen, wie der müde Beifall nach einer Festansprache, und von einem unnachahmlichen Ruf, der das ganze Dorf durchhallte: »Aa-auf!«
    Aa-auf. Marianne trieb ihre Kühe von der Weide zurück zum Melken, große, braunweiße, brunzdumme Tiere, die gelangweilt auf die Straße brezelten, jedes Jahr im Spätsommer Pauls kleinen Spalierapfelbaum zu schänden versuchten und von Marianne mit Stockhieben und jenem durchdringenden Ruf angetrieben werden mußten, der das Knacken ihrer Hufe auf dem Asphalt höchstens für Minutenbruchteile schneller werden ließ.
    Aa-auf.
    Das war, für Paul, der Ruf der Geborgenheit. Er unterteilte den Tag wie anderswo das Glockengeläut. Er brachte Ordnung ins Leben.
    Vom Apfelbaum fiel eine dicke, grüne Reinette und zerbarst mit einem trockenen Schmatzen auf dem Asphalt. Zeit für die Apfelernte. Nicht heute. Vielleicht morgen.
3
    Die kleine Pendeluhr unten im Wohnzimmer schlug halb. Seit vier Uhr morgens schon lag Paul wach und wartete auf das erste Gurgeln und Röcheln von Gottfrieds preisgekrönten Zwergwyandottenhähnen. Entweder war der Rotwein schuld. Oder es hing, wie Bremer insgeheim fürchtete, mit dem Älterwerden zusammen. Man vertrug nichts mehr – weder Alkohol noch gutes Essen, konnte nicht mehr schlafen und wurde grau und grämlich.
    Paul hing der Albtraum noch in den Knochen, der ihn aus dem Schlaf gerissen hatte, schweißnaß war er aufgewacht, mit rasendem Herz. An Details erinnerte er sich nicht, an die Art des Schreckens nur vage: irgend etwas aus alten Zeiten, wahrscheinlich Sibylle, womöglich das frühere Leben. Zur Strafe für die Vergangenheit lag er nun wach und fürchtete sich vor der Zukunft.
    Wer mitten in einer gepflegten Karriere den radikalen Bruch vollzieht, hat zwar die öffentliche Meinung auf seiner Seite, die nichts schicker findet als Männer in der Midlife-crisis, die beschließen, ihr Leben zu ändern. Aber die Lebenswirklichkeit war weniger romantisch. Als Paul sich vor fünf Jahren von seinem gutbezahlten Job in einer Frankfurter Kommunikationsagentur verabschiedete (man spricht ja heutzutage nicht mehr von Werbung), hatte er genug zurückgelegt, um sich zwei Jahre über Wasser zu halten.

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