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Caruso singt nicht mehr

Titel: Caruso singt nicht mehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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vom vorigen Jahr abhaken. Er hatte das Haus innen frisch verputzt und gestrichen, den Holzböden oben und den alten rotgebrannten Bodenfliesen unten mit Leinöl einen honigfarbenen Glanz gegeben. Schon ein paar Zentimeter Hochwasser im Haus bedeuteten tagelange Putzorgien; die ganze Anstreicherei wäre umsonst gewesen. Lehmwände saugen alles Feuchte in Minutenschnelle auf, die Brühe würde die Wände hochkriechen und dort bräunliche Ränder hinterlassen, die nur schlecht zu übertünchen waren. Stinken würde es auch. Wochenlang. Er fröstelte beim Gedanken an einen feuchten, klammen und übelriechenden Winter. Das Wasser hatte draußen im Hof bereits den Deckel von der Hausgrube hochgedrückt und sich mit dem Inhalt vermischt. »Scheiße«, sagte Bremer laut. Was ja zutreffend war. Noch schätzungsweise acht Zentimeter. Er sehnte sich nach der Stadt.
    Von der Landstraße her bog ein Auto in die Dorfstraße ein und schob sich zwischen meterhohen Bugwellen langsam auf Paul zu. Der hatte sich eben noch als einsamster Hund in der ganzen hessischen Rhön gefühlt und merkte plötzlich, daß er das auch gern geblieben wäre. Was half ihm irgendein gutgemeinter Katastrophentourismus? Der schwarze Audi kam näher. »Die Farbe paßt zur Lage«, murmelte Paul und bemerkte erleichtert, daß sich sein Galgenhumor zurückgemeldet hatte. Erst als das Auto vor ihm stand, erkannte er Bürgermeister Bast.
    Dem war nicht entgangen, wie gespenstisch die Szene wirkte. Das Dorf wie ausgestorben, von Hochwasser fast eingeschlossen – und mitten auf der Dorfstraße stand wie ein einsamer Wolf der verrückte Städter: Paul Bremer, eher klein, fast zierlich, in großen Gummistiefeln und grüner Regenjacke, breitbeinig, beide Hände in die Jackentaschen gestopft, trotzig, traurig. Als ob er sich aufbäumen wollte gegen etwas, das andere längst als schicksalhaft hinnahmen. Bast schüttelte den Kopf. Er war in seiner Gemeinde für neun Dörfer zuständig, und Klein-Roda war keineswegs der einzige Ort, dem jährlich Hochwasser drohte. Aber dieses kleine Kaff hier lag ihm aus irgendeinem Grund besonders am Herzen.
    Bast ließ das Wagenfenster herunter. »Ist es schon drin?« Bremer legte den rechten Ellenbogen auf das sauber gewachste Wagendach, von dem die Nässe perlte, beugte sich zum Bürgermeister hinunter und schüttelte den Kopf: »Noch schätzungsweise acht Zentimeter. Wenn es nicht wieder regnet, könnte mir die Soße im Wohnzimmer noch mal erspart bleiben.«
    Bast nickte langsam, ein bißchen mitleidig, ein bißchen abwesend. Das Hochwasser war schlimm, weshalb er noch abends um halb neun eine Art von Patrouille fuhr. Um wenigstens Trost zu spenden, wenn er sonst schon nichts tun konnte. Aber noch schlimmer war etwas anderes.
    »Sie haben das sicher schon gehört«, sagte Bast. Bremer entging das Fragezeichen ebensowenig wie die Müdigkeit im Gesicht des Mannes.
    »Nichts habe ich gehört.« Marianne, sonst für jeden Tratsch gut, hatte sich heute noch nicht blicken lassen.
    »Diesmal hat es die Kramers vom Auwiesenweg erwischt. Eine Palomino-Stute, eine dreijährige. Gestern nacht. Die gleiche Handschrift, um es mal so zu sagen.«
    Paul seufzte, trat einen Schritt zurück und fuhr sich mit der rechten Hand durch sein kurzes graues Haar. »Er kommt also näher, der Pferdeschlitzer.«
    »Sieht so aus.« Bast schlug mit der flachen Hand auf das Lenkrad. Zweimal. Paul fiel auf, was für eine seltsam hilflose Geste das war.
    »Als ob’s uns nicht langsam reicht. Brandstiftung in Laufelden, eine abgefackelte Scheune in Streitbach und vier tote Pferde innerhalb von anderthalb Monaten«, sagte der Bürgermeister bitter.
    »Ich dacht, ich sag’s Ihnen lieber. Was so was anrichtet hier auf dem Land! Das Mißtrauen überall. Jeder beäugt jeden. Es könnte ja der Nachbar sein, der beste Freund …«
    »Ich weiß«, sagte Paul. »Man merkt es schon.«
    Auf dem Land war man gewohnt, alles Schlechte dieser Welt in ihren Großstädten oder wenigstens weit entfernt zu vermuten. Weshalb man die kleineren und größeren Verbrechen immer erst den Fremden anzuhängen versuchte – den Rumänen, den Asylanten, allen Osteuropäern, irgendwelchen Städtern auf Durchreise. Dieser rettende Ausweg galt neuerdings nicht mehr: Brandstiftung war eine ländliche Spezialität. Und auch das Pferdeschlitzen ließ sich nicht so ohne weiteres Fremden in die Schuhe schieben. Die regionale Verteilung bestimmter Verbrechensarten war da eindeutig. Deshalb mußte man

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