Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Carvalho und das Mädchen, das Emmanuelle sein sollte

Carvalho und das Mädchen, das Emmanuelle sein sollte

Titel: Carvalho und das Mädchen, das Emmanuelle sein sollte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manuel Vázquez Montalbán
Vom Netzwerk:
aufzurichten. Es wurde bereits dunkel, und Carvalho zog seine Pistole aus dem Halfter. Entweder war der Eindringling längst über alle Berge, oder er versteckte sich noch irgendwo im Garten. Plötzlich hörte er die verängstigte Stimme der Anthropologin.
    Â»Carvalho?«
    Â»Ja.«
    Â»Keine Sorge. Ich bin’s bloß, Dorotea Samuelson.«
    Er steckte die Pistole weg, ging in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war, und dort hockte sie. Sie war nicht allein: Neben ihr kauerte Dieste und versuchte sich noch kleiner zu machen als die Frau.
    Â»Wir dachten, hier wären wir am sichersten. Entschuldigen Sie den Hausfriedensbruch. Rocco wurde ermordet.«
    Der Anthropologin versagte die Stimme, doch Carvalho sprach ihr nicht das Beileid aus, das sie vielleicht erwartet hatte. Stattdessen forderte der Detektiv sie auf, ihn ins Haus zu begleiten, das er als Erstes Raum für Raum inspizierte. Anschließend schloss er Fenster und Türen, schaltete das Licht an und öffnete eine Flasche Springbank.
    Â»Der beste Whisky, den ich je besessen habe. Nicht der beste, den ich je getrunken habe, aber der beste, den ich je besessen habe. Er gehörte einem reichen Mann, der einen Literaturpreis verleihen wollte, und ich habe die Flasche aus seinem Privatflugzeug mitgenommen. Trinken Sie ihn ohne Eis. Einen mehr als zwanzig Jahre alten Springbank mit Eis zu trinken wäre dasselbe wie einen Bordeaux mit Kohlensäure.«
    Kaum hatte Dieste die ersten Schlucke Springbank intus, begann sein Adamsapfel wie wild auf und ab zu hüpfen. Dorotea kam langsam wieder zu Atem, und nachdem sie sich ebenfalls ausgiebig dem Alkohol gewidmet hatte, brach sie in einen wahren Sturzbach von Tränen aus. »Man hat ihn mir genommen. Man hat ihn mir genommen.« »Er hat dir nicht mehr gehört«, versuchte Dieste sie zu trösten. Carvalho ließ sie weinen, viel mehr bedrückte ihn die Tatsache, dass die Flasche leer wäre, noch ehe die Nacht hereingebrochen war. Als die Tragödie kurz vor dem Höhepunkt war und sich Dieste und Dorotea heulend in den Armen lagen, ergriff Carvalho die Initiative.
    Â»Sie haben den ganzen Whisky ausgetrunken, jetzt ist es an der Zeit, dass Sie mir etwas zurückgeben. Ich will alles wissen, was ich nicht weiß, aber Sie wissen. Welches Geheimnis hatten Helga und Rocco? Und warum haben sie es so schlecht gehütet, dass sie sterben mussten?«
    Wenn Carvalho geglaubt hatte, Dorotea würde als Erste das Wort ergreifen, hatte er sich getäuscht. Es war Dieste, der in ein nur für ihn wahrnehmbares Rampenlicht trat, die Hände in die Hosentaschen steckte, die Schultern hochzog, sämtliche Innenräume seines Körpers mit Luft füllte, die Luft wieder ausströmen ließ und dann zuerst nach Westen, dann nach Osten blickte. Der Westen von Carvalhos Wohn- und Speisezimmer schien ihm besser zu gefallen, denn dorthin richtete er endgültig seinen Blick und begann zu erzählen.
    Â»Im Grunde weiß Dorotea nur vom Hörensagen, was ich erlebt habe, ich und Emmanuelle und aus einer gewissen Distanz auch Rocco. Sie wissen ja, wir haben alles getan, um einen Star aus Helga zu machen. Wir sind jeden Abend ausgegangen, haben die Nächte durchgemacht, uns überall gezeigt, sind da hingegangen, wo wir die anderen sahen, vor allem aber, wo
wir
gesehen wurden, und das alles nur, um unser Ziel zu erreichen. Buenos Aires führt drei, vier Leben gleichzeitig, dieselbe Stadt, in der die Keller voller Leichen und Gefolterter waren, hat den Sieg der Fußballweltmeisterschaft gefeiert und das Nachtleben genossen, wie es nur in Buenos Aires möglich ist. Und dann hat ein gewisser Olavarría, Helgas zukünftiger Schwager, ihr einen Soloauftritt in einem Theater besorgt. Helgas Schwester hatte nicht die geringste Ahnung, dass sie eines Tages das Pech haben sollte, diesen Olavarría zu heiraten. Helga hatte keine Lust mehr, Emmanuelle zu sein, sie hatte keine Lust mehr, einfach nur schön zu sein. Sie wäre gern eine Art Kabarettstar geworden, so wie Cecilia Rossetto, die heute zu den besten ihrer Zunft gehört und regelmäßig in Spanien, in Barcelona, auftritt. Helga bat mich, mit ihr zu proben und sie zur Premiere zu begleiten, weil es ein sehr schwieriges Stück war, lustig, aber auch sehr bissig. Ein Freund hatte es für sie geschrieben – Rocco Cavalcanti, auch Quino genannt. Seltsam, nicht? Der Auftritt fand in einer

Weitere Kostenlose Bücher