Caspar Hauser oder Die Traegheit des Herzens
zu einem nachsichtigen Lächeln zwang. »Wir wollen nichts überstürzen,« sagte er. »Ich lasse morgen früh das Gepäck herschaffen, heute soll er noch bei mir bleiben.«
Es war dunkel geworden, als beide das Haus verließen. Quandt begleitete sie bis auf die Straße. Zurückkehrend schloß er ganz leise und langsam die Tür, wie er immer zu tun pflegte, dann stellte er sich in die Mitte des Zimmers, legte beide Hände flach gegen die Brust und schüttelte mindestens eine Viertelminute lang in lautlosem Erstaunen den Kopf.
»Warum schüttelst du denn so den Kopf?« fragte Frau Quandt.
»Ich begreife nicht, ich begreife nicht,« antwortete der Lehrer bekümmert und schlich herum, als suche er etwas auf dem Boden.
»Was begreifst du denn wieder nicht?« fragte die Frau verdrießlich.
Quandt zog einen Stuhl herbei, setzte sich neben seine Gattin und schaute sie aus seinen blassen Augen fest an, bevor er fortfuhr: »Hast
du
vielleicht etwas Wunderbares an dem Menschen bemerkt? Sprich dich nur aus, liebe Jette, hast du etwas, irgend etwas Außergewöhnliches bemerkt, irgend etwas, das ihn von einem andern Menschen unterscheidet?«
Frau Quandt lachte. »Ich habe nur bemerkt, daß er nicht besonders höflich war und daß er seidene Strümpfe trägt wie ein Marquis,« entgegnete sie leichthin.
»Ja, nicht wahr? nicht besonders höflich, wie? und seidene Strümpfe, ganz recht,« sagte Quandt mit sonderbarer Hast, als sei er einer Entdeckung auf der Spur. »Na, die seidenen Strümpfe werden wir ihm schon abgewöhnen und das Modewestchen auch; dergleichen schickt sich nicht für unser einfaches Haus. Aber ich frage dich: verstehst du die Menschen? verstehstdu die Welt? Davon hört man nun seit Jahren als von einem noch nie dagewesenen Wunder reden! Dafür erhitzen sich geistreiche Männer, Männer von Geschmack, von Welt, von Kenntnissen; ist es zu fassen? Gibt es denn keinen, der mit seinen eignen, ihm von Gott eingesetzten Augen sehen kann? Ist es zu fassen?«
Mittlerweile waren Caspar und der Lord zum Gasthof zurückgekehrt. Stanhope war nicht gerade rosig gestimmt. Die Schweigsamkeit seines Begleiters erboste ihn; es war ihm, als werde hinter einem Vorhang eine Pistole gegen ihn gerichtet.
Er war unruhig, fühlte sich in die Enge getrieben. Es gibt einen Punkt, wo die Schicksale sich wie auf einem schmalen Pfad zwischen Abgründen begegnen und wo es zum Austrag kommen muß. Da stellen sich Worte ungerufen ein; die Dämonen erheben sich aus dem Schlummer.
Stanhope schellte dem Diener, ließ die Lichter anzünden und Holz ins Kaminfeuer legen. Gleich darauf wurde der Hofrat Hofmann gemeldet; der Lord sagte, er sei nicht zu sprechen, gab auch Befehl, niemand mehr vorzulassen. Er machte sich unter seinen Papieren zu schaffen und fragte dabei Caspar: »Wie haben dir die Lehrersleute gefallen?«
Caspar wußte nicht recht, wie, und gab eine unbestimmte Antwort. In Wahrheit wußte er überhaupt gar nicht mehr, wie Herr Quandt oder dessen Frau oder das Haus aussahen. Er erinnerte sich bloß, daß Frau Quandt ihren Kaffee aus der Untertasse getrunken und den Zucker dazu abgebissen hatte, was ihm sehr albern erschienen war.
Plötzlich kehrte sich Stanhope um und fragte mit der Miene eines Menschen, der die Geduld verliert: »Also, was ist es mit dem Ring? Was wolltest du damit sagen?«
Caspar antwortete nicht; in traurigem Trotz schaute er ins Leere. Stanhope näherte sich ihm, tippte ihm mit dem Zeigefinger auf die Schulter und sagte scharf: »Sprich; sonst wehe dir!«
»Mir ist schon weh genug,« entgegnete Caspar eintönig, und sein Blick glitt von der Gestalt des Grafen wie von etwas Schlüpfrigem hinweg auf die dunkelrote Tapete, auf welcher das Kaminfeuer Schatten malte.
Was hätte er sagen sollen? War doch sein Gefühl fast ungemindert gegen den, der ihm den Weg gewiesen, der zum erstenmal wie ein Mensch zu ihm geredet. Sollte er von der furchtbaren Nacht im Tucherschen Haus erzählen, wo er gesessen, die Fäuste in der Brust, das Herz zerrieben, einsam und der Welt beraubt? Wie er angefangen hatte zu suchen, zu suchen, wie er die Zeit aufgegraben, gleichwie man im Garten Erde aufgräbt, wie es Tag geworden und er enteilt war, wie er Kinder gesehen, den Fluß gesehen, an einem Baume gekniet, alles wie nie zuvor, alles anders, er selbst verwandelt, mit neuen Augen, von Unwissenheit erlöst ... Unmöglich, solches mitzuteilen; dafür gab es keine Worte.
Er fuhr fort, ins Leere zu starren, indes Stanhope, die
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